Besucher im Val Cluozza. Bild: Hans Lozza
Besucher im Val Cluozza. Bild: Hans Lozza © Hans Lozza

Eine von COVID-19 geprägte Saison im Schweizerischen Nationalpark

Sonja Wipf Vor bald einem Jahr trafen sich die Mitarbeitenden des Schweizerischen Nationalparks (SNP) jeden Tag im Internet zur digitalen Kaffeepause. Wichtiges Thema: Die mutmasslichen Auswirkungen von COVID-19 auf den laufenden Betrieb. Was für ein Sommer würde da wohl auf uns zukommen?

Kurz entschlossen nahmen wir eine Befragung von Wandererinnen und Wanderern im SNP in Angriff. Wir wollten erfassen, ob und wie es sich mit deren Zusammensetzung, Motivation und Zufriedenheit im COVID-19 -Jahr verhält, und wie diese sich im Vergleich zu vergangenen Umfragen verändert. Über 1000 Personen nahmen an der Umfrage teil. Wir präsentieren hier einige Resultate und beleuchten verschiedene Aspekte des Pandemie-Sommers 2020 aus Sicht des SNP.

Lock-down und «neue Freiheit»

Nachdem gegen Mitte Mai ein Grossteil der nationalen COVID-19-Beschränkungen aufgehoben und auch die ersten Wanderwege im SNP geöffnet wurden, nahm nicht nur der Verkehr auf den Strassen und Wegen, sondern auch im Internet massiv zu. Unsere Homepage, welche in vergangenen Jahren im Mai zwischen 1000 und 1500 Besuche pro Tag erhielt, wurde in der zweiten Maihälfte regelmässig über 2500 Mal täglich angeklickt. Insgesamt herrschte im Mai fast doppelt soviel «Online-Verkehr» wie in den vorhergehenden Jahren.

Anscheinend waren darunter viele Leute, die sich nach dem Wiedererlangen der Reisefreiheit über einen bevorstehenden Besuch orientierten: Schon an Auffahrt und Pfingsten, traditionellerweise Daten mit eher bescheidenem Andrang im SNP, waren die Parkplätze entlang der Ofenpassstrasse belegt und die Wege von Dutzenden Wanderern begangen. Darunter befanden sich auch einige Leute, die noch nicht sehr wandererfahren und für frühsommerliche Bergwege mit Schneefeldern schlecht ausgerüstet waren. Grundsätzlich schienen die Leute aber einfach froh und dankbar zu sein, mit der nötigen räumlichen Distanz draussen in der Natur unterwegs sein zu können. Wahrscheinlich kannten sie während des Lockdowns die stark besuchten Waldwege um ihre Wohnorte schon in- und auswendig. Bei der Befragung gaben entsprechend auch mehr als die Hälfte der SNP-Besucherinnen und -Besucher an, dass die COVID-19-Auflagen bei ihrer Entscheidung, die SNP-Region zu besuchen, eine Rolle gespielt habe (Fig. 2). 20 % gaben an, dass sie ohne Pandemie gar nicht hergekommen wären.

Rekorde und deren Folgen

Unsere Zählsysteme, welche von den Besuchenden unbemerkt die Frequenzen auf einigen Wegen erheben, registrierten Rekordwerte. In der standardisierten Zählperiode (Juni bis Oktober) wurden eineinhalbmal so viele Personen registriert wie im Schnitt der vergangenen Jahre. Während in den vergangenen Jahren mehr als 20 % der SNP-Besucherinnen und -Besucher aus dem Ausland angereist waren, stammten dieses Jahr über 90 % der Befragten aus der Schweiz. Hochgerechnet auf die gesamten Besucherzahlen gehen wir davon aus, dass etwa 50'000 in der Schweiz wohnhafte Besucher mehr als in den vergangenen Jahren im SNP unterwegs waren, dafür kamen 8000 weniger ausländische Gäste. Auffällig war, dass wesentlich mehr Französisch im SNP hörbar war. Verschiedene BesucherInnen aus der Westschweiz bestätigten uns, dass sie die Gelegenheit wahrgenommen hätten, eine von ihnen weit entfernte Ecke der Schweiz zu erkunden, anstatt ins Ausland zu fahren.

Dass eine gefühlte halbe Nation die Natur und die Berge als Erholungsraum für sich entdeckte, machte sich im SNP deutlich bemerkbar, besonders, wenn man bedenkt, dass 40 % noch nie bzw. in den letzten 10 Jahren nicht mehr im SNP waren. Eine spürbar höhere Anzahl von Besuchern hielt sich allerdings nicht an die strengen Schutzbestimmungen. Vielen war nicht bewusst, dass im SNP Hunde verboten sind, ein Wegegebot gilt und auch das Fliegen lassen von Drohnen untersagt ist. Entsprechend mussten fast doppelt so viele Ordnungsbussen ausgesprochen werden wie im Durchschnitt der letzten Jahre. Andererseits waren die Besuchenden sehr wissbegierig und das Interesse an geführten Exkursionen dementsprechend überdurchschnittlich hoch, obwohl die COVID-19-Massnahmen deren Durchführung erheblich erschwerte.

Wie in vergangenen Umfragen reisten über 70 % der befragten Wanderer und Wanderinnen mit dem Privatauto an, was in absoluten Zahlen einem Plus von etwa 35'000 Personen, die mit dem Auto angereist sind, entspricht. Kein Wunder, waren an einigen Tagen die Parkplätze überbelegt. Ebenso voll waren an Spitzentagen die Rastplätze im SNP. Deshalb wurden punktuell freiwillige Mitarbeiter und Praktikanten des SNP als Informations- und Aufsichtspersonen eingesetzt. Dass diese jeweils Fernrohr (inkl. Desinfektionsmittel!), Anschauungsmaterial und Fachwissen zur Verfügung stellten, wurde sehr geschätzt. Im Allgemeinen war die Zufriedenheit unter den befragten Personen gross.

Ähnliche Muster in ganz Europa

Mit unseren Erfahrungen aus dem COVID-19-Jahr sind wir nicht allein. Eine Journalistin der New York Times, welche viele Schutzgebietsverantwortliche interviewt hatte, versicherte uns, dass von Spanien bis Estland und von Slowenien bis nach Wales alle Ähnliches erzählen – vom Besucheransturm und Verkehrsproblemen, von Konflikten mit den Schutzauflagen, vom grösserem Bedarf an Personal und Schwierigkeiten, die Besuchenden angemessen betreuen zu können. Auch die Naturparks der Schweiz machten ähnliche Erfahrungen. Unsere Befragung zeigt aber auch klar, dass durch den COVID-19-Lockdown bei vielen Menschen ein Bedürfnis nach «Natur pur» geweckt wurde, die vorher wenig mit Wandern und Naturerlebnissen am Hut hatten. Ob diese Entwicklung nachhaltig ist und ob sich solche Gäste auch in Zukunft für die Natur begeistern lassen, wird sich erst in den kommenden Jahren weisen. Es ist auf jeden Fall eine grosse Chance, das Verständnis für die Schönheit unserer Landschaften und den Schutz der Natur an breitere Kreise der Bevölkerung weiterzugeben.

Über die Hälfte der befragten Besuchenden im SNP gaben an, dass die Auflagen in Verbindung mit der COVID-19 Pandemie einen gewissen Einfluss hatten auf ihre Entscheidung, die Region des SNP zu besuchen.
Über die Hälfte der befragten Besuchenden im SNP gaben an, dass die Auflagen in Verbindung mit der COVID-19 Pandemie einen gewissen Einfluss hatten auf ihre Entscheidung, die Region des SNP zu besuchen.

Das könnte Sie auch interessieren