Wir sehen den Tod nicht als Gegner

Jürg Wirth Gian Flury ist Abteilungsleiter Medizin im Center da Sandà Engiadina Bassa in Scuol. Als solcher steht er auch der Abteilung für Palliative Care vor. Im Interview sinniert er über den Tod und sagt, wie es den Patient*innen auf dieser Abteilung geht.

Wie möchten Sie sterben?

Tatsächlich habe ich mir das schon überlegt. Am liebsten würde ich einfach einschlafen, nachdem ich bis zum Schluss eine gute Lebensqualität hatte. Das wäre dann zum Beispiel der plötzliche Herztod. Allerdings kann man seinen Tod nicht auswählen, und diese Variante ist sehr schwierig fürs Umfeld, da niemand Abschied nehmen kann.

Diskutiert man dies auch mit den Patienten?

Diskutieren nicht unbedingt, aber wir sagen quasi, was wir als Palliativ-Abteilung anzubieten haben. Also zum Beispiel, dass wir nicht in erster Linie das Leben der Patient*innen verlängern, sondern ihnen bis zum Tod eine möglichst hohe Lebensqualität bieten wollen. Wir sehen den Tod nicht als Gegner.

Selbstverständlich gehen wir auch auf die Ängste der Menschen ein. Beispielsweise, wenn sich ein Lungenkranker davor fürchtet, zu ersticken oder generell, wenn die Leute Angst vor Schmerzen haben. Wir versuchen gemeinsam zu ermitteln, was die Ängste und die Ziele der Patient*innen sind. Wir nennen das «strukturiertes Assessement», das führen wir interdisziplinär mit den Spezialist*innen aus der Klinik durch, zusammen mit den Betroffenen und deren Angehörigen.

Was versteht man eigentlich genau unter Palliative Care?

Unter Palliative Care verstehen wir die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen und ihren Familien, welche sich im Erleben und der Auseinandersetzung mit einer schweren respektive unheilbaren Krankheit befinden. Dies erfolgt durch Prävention und Linderung von Leiden und Schmerzen.

Und wie geschieht das konkret?

Zuerst gibt es eine Bestandsaufnahme gemeinsam mit den Betroffenen und den Angehörigen. Dort geht es darum, die Hauptproblematik kennenzulernen, also beispielsweise Schmerzen, Übelkeit, aber auch psychische Probleme, das kann dann auch ins Spirituelle gehen. Dies alles geschieht mit einem multiprofessionellen Team. Es gehen auch immer verschiedene Ärzt*innen gemeinsam auf Visite.

Werden die Angehörigen betreut und wie?

Diese werden von Anfang an einbezogen, dann gibt es regelmässige Gespräche am runden Tisch, an denen wir erläutern, wie die Situation aussieht. Denn es ist wichtig, dass alle auf dem gleichen Stand sind, die Kommunikation ist sehr wichtig. Die Angehörigen können einbringen, was man ihrer Meinung nach besser machen könnte. Zudem gibt es die Möglichkeit, dass sie im Palliativzimmer schlafen können. Denn es gibt viele Patient*innen, die in der Nacht Angst haben.

Wie lange sind Patient*innen durchschnittlich auf der Palliativabteilung?

Das variiert von wenigen Tagen bis hin zu wenigen Wochen. Im Schnitt dürften dies aber so 10 bis 14 Tage sein.

Wie ist es, wenn die Leute auf die Palliativabteilung kommen und quasi wissen, dass sie sterben werden?

Es sterben nicht alle Leute, die auf der Palliativabteilung sind. Zudem haben wir die beiden Zimmer nicht mit «Palliativ» angeschrieben. Es ist zwar nicht so, dass sich die Leute auf der Palliativabteilung erholen würden und dann gesund wieder nach Hause gehen. Aber es kommt vor, dass die Betroffenen ein paar Tage auf der Abteilung sind, damit man die Schmerzmittel und Medikamente wieder gut einstellen kann. Dann können sie nachher wieder nach Hause gehen. Auch da geht es um die Verbesserung der Lebensqualität.

Zudem erarbeiten wir ein Konzept für die Angehörigen, was in dieser oder jener Situation getan werden kann. Zudem organisieren wir die Zusammenarbeit mit der Palliative-Spitex.

Aber die Leute wissen, dass sie bald sterben werden?

Wahrscheinlich wissen das nicht alle, denn wir sagen nicht, das ist jetzt die Endstation, sondern dass sie in dieses Zimmer kommen, weil dort das Setting besser ist. Weil wir dort besser auf die Bedürfnisse der Patienten eingehen können. Aber wir gehen schon davon aus, dass sich die meisten Leute ihrer Situation bewusst sind. Was wir aber nicht abgeben, sind irgendwelche Prognosen über die Lebensdauer. Meistens befinden sich die Menschen in einem weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium, bei dem es keine kurativen Mittel mehr gibt.

Wie nehmen sie diese Nachricht auf?

Meistens gut, denn sie wissen schon in etwa, wie es um ihr Leben steht.

Was hat es mit dem Loslassen auf sich?

Das ist tatsächlich ein häufiges Thema, welches wir mit den Patient*innen und den Angehörigen diskutieren.

Können die Menschen besser sterben, wenn die Angehörigen anwesend sind oder wenn sie weg sind?

Das kann man nicht generell sagen. Es gibt Betroffene, die froh sind, wenn die Angehörigen bis zum Schluss dabei sind. Bei anderen sieht es durchaus so aus, als hätten sie gewartet, bis sie alleine sind. Dann zum Beispiel, wenn die Angehörigen praktisch den ganzen Tag im Zimmer sind und vielleicht mal kurz weg müssen. Dann sterben die Leute, als ob sie darauf gewartet hätten.

Doch auch die meisten Angehörigen möchten bleiben und ihre liebsten Menschen in den Tod begleiten. Ab und an fragen mich auch Leute, ob sie noch heimgehen können oder ob der Patient oder die Patientin dann stirbt. Das kann ich allerdings nicht beantworten.

Was passiert mit den Leuten, wenn sie sterben?

Am Schluss ist es immer ein Herzversagen. Zu Beginn bekommen die Leute vielleicht nicht mehr genügend Sauerstoff, oder die Nieren funktionieren nicht mehr, was dann auch zum Tod führt. Schlussendlich gibt es klare Todeszeichen, die zu bestätigen sind.

Gibt es die berühmten letzten Worte an die Angehörigen?

Die meisten sagen eher nichts mehr, denn der Sterbeprozess verläuft meistens ziemlich rasch. Für die Angehörigen kann es schwierig werden, wenn sie das Gefühl haben, dass die Patient*innen leiden. Bei Lungenkranken setzt eine gewisse Zeit vor dem Tod das Lungenrasseln ein, was nach Qualen klingt und für die Angehörigen belastend ist, doch die Betroffenen leiden nicht dabei.

Wie schwierig ist es für die Leute, die dort arbeiten?

Obwohl sie natürlich eine professionelle Einstellung haben, ist Leben, das vergeht, immer mit Emotionen verbunden. Allerdings kommt es auch etwas auf die Leute an, die sterben. Bei Menschen, die lange krank waren oder im hohen Alter sind, ist es vielleicht etwas weniger emotional, als wenn junge Menschen an einer Krankheit sterben.

Wie werden die Mitarbeitenden «betreut»?

Erstens haben viele eine Zusatzausbildung in Palliative Care. Dann besprechen wir regelmässig die Emotionen untereinander. Wir machen bei Bedarf ein Debriefing mit dem Personal oder, wenn es sehr belastend ist, auch eine Supervision. Zum Beispiel, wenn jemand nach einem Hungerfasten gestorben ist, denn das geht den Menschen in der Umgebung sehr nahe.

Und wie ist das für Sie als Arzt?

Meine Einstellung zum Tod hat sich im Laufe der Jahre geändert. Früher, als junger Arzt, war jeder Tod eine Niederlage. Davon bin ich weggekommen und sehe den Tod als natürlichen Prozess, weil jedes Leben einmal ein Ende hat.

Selbstverständlich versuchen wir zu helfen und alles zu tun, aber wenn alle medizinisch vernünftigen Mittel ausgeschöpft sind und es gar der Wunsch der Betroffenen ist zu sterben, dann können wir das gut akzeptieren.

Gibt es viele Menschen, die vor ihrem Tod noch Streitereien oder andere Sachen in Ordnung bringen wollen?

Ja, das gibt es ab und zu, dass die Patient*innen das Gefühl haben, dass sie noch etwas bereinigen müssen. Beispielsweise mit Kindern, mit denen sie den Kontakt abgebrochen haben. Dann kommen diese teilweise wirklich noch vorbei und man versöhnt sich.

Allerdings gibt es auch jene, die nichts mehr bereinigen wollen und quasi im Streit gehen. Meiner Meinung spürt man dies aber, das sind dann oft diejenigen, die den Todeskampf nicht aufgeben können, obwohl sie leiden. Damit machen sie es sich sehr schwer.

Wie gehen Sie mit dem Tod um?

Ich habe während meiner langjährigen ärztlichen Tätigkeit immer wieder Patient*innen betreut, die gestorben sind. Die Einstellung zum Tod ist mehr eine Frage des Alters und der Erfahrung. Als junger Arzt ist es oft schwieriger, mit dem Tod umzugehen, weil jeder Tod eine gefühlte persönliche Niederlage ist. Mit der Zeit lernt man, den Tod zu akzeptieren und damit die Tatsache, dass er zum Leben gehört.

Gian Flury ist Leiter Medizin im Center da Sandà Engiadina Bassa. Beim Aufbau der Palliativ-Abteilung, die es seit 2007 gibt, war und ist er zusammen mit Hannes Graf massgeblich beteiligt.

Gian Flury macht sich nur schon von Berufes wegen Gedanken zum Tod.
Gian Flury macht sich nur schon von Berufes wegen Gedanken zum Tod. © zvg

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