Nairs ist der beste Ort, um Kunst zu machen

Jürg Wirth «Mister Nairs», Christof Rösch, gibt Ende Saison die Leitung des Nairs, Zentrum für Gegenwartskunst und Künstlerhaus, ab. Ob ihm das Aufhören schwerfällt und was er danach machen will, hat er dem ALLEGRA verraten.

Sie gehen in die letzte Saison als Co-Direktor und künstlerischer Leiter von Nairs. Wie ist das Befinden?

Eigentlich sehr gut, es fühlt sich befreiend an. Zudem bin ich auch guter Hoffnung, dass Nairs weiterhin inspirierend wirkt, weil der Ort so gut ist. Ich wiederhole immer wieder: Die Vision liegt im Ort selbst. Schön wäre es, wenn die neue, junge Generation den Ort wertschätzt, diesen versteht und auch neu interpretiert.

Was mich betrifft, so werde ich Nairs oder diesen Ort nicht ganz verlassen. Ich beschäftige mich weiter intensiv mit der Büvetta. Grundsätzlich aber bin ich froh, dass ich die künstlerische Leitung von Nairs abgeben kann. Es kommt eine neue Phase für Nairs und für mich und das sehe ich auch als Chance – für beide Seiten. Zudem gibt mir dieser Schritt mehr Freiheit für mein eigenes künstlerisches Schaffen.

Haben Sie alles gemacht, was Sie machen wollten oder gibt es noch etwas, das fehlt?

Grundsätzlich ist man wohl nie fertig. Ich habe versucht, viel zu integrieren im Spagat zwischen dem Lokalen und dem Internationalen. Ich wollte mich unter anderem auf die Kulturlandschaft und das kulturelle Erbe des Unterengadins konzentrieren und auch einen Beitrag zu dessen Bewusstmachung leisten. Das hört nie auf. Fertig bin ich damit noch nicht, doch in Nairs dürfen dies nun andere weiterführen. Und was gibt es für eine edlere Aufgabe, als den öffentlichen Kulturauftrag mit der persönlichen Leidenschaft zu verbinden?

Wenn es mich in Nairs noch beratend braucht, dann helfe ich gerne mit, vor allem auch bei baukünstlerischen oder handwerklichen Themen wie Kalk oder dem Engadiner Fenster generell als Nukleus für die Verlinkung mit diesem intensiven Ort. Für mich bleibt Nairs der beste Ort, Kunst zu machen. Und es muss alles getan werden, damit dies so bleibt. Solche Inseln werden immer rarer in dieser durchökonomisierten Welt.

Wieso hören Sie überhaupt auf?

Ich kenne nun Nairs seit über 30 Jahren, erst als Stipendiat, später als künstlerischer Leiter. Nairs hat mein Leben massgeblich geprägt. Ich war nun gut 25 Jahre als künstlerischer Leiter in Nairs tätig, und das ist eine lange Zeitspanne, Lebenszeit. Die Pionierphase ist schon lange abgeschlossen. Inzwischen haben wir das Gebäude umfassend saniert und zu einem Ganzjahresbetrieb erweitert. Dadurch ist das Ganze aber auch institutioneller geworden. Heute sind vermehrt auch Managementqualitäten erforderlich, um den Betrieb zu führen und weiterzuentwickeln. Da gebe ich den Stab gerne weiter. Allerdings bin ich dezidiert der Meinung, dass die künstlerische Leitung den strategisch-inhaltlichen Lead behalten muss, zusammen mit dem Stiftungsrat, selbstverständlich in enger Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung.

Sind Sie, was das Management betrifft, an Ihre Grenzen gestossen?

So kann man das nicht sagen. Ich bin offen für die Veränderungen in Nairs. Aber ich wollte Nairs nicht meinen spezifischen Fähigkeiten und Interessen unterordnen, sondern eher umgekehrt: Im Dialog mit anderen an der Vision «Ensemble Nairs» weiterarbeiten. So ist auch die «Institutionalisierung» besser zu verstehen. Trotzdem, die Gefahr, dass das Künstlerische zu kurz kommen könnte, bleibt bestehen. Es ist höchste Wachsamkeit gefordert, damit die Kunst ihre Freiheit behält und im Zentrum bleibt. Vielleicht wird ja nach mir auch die Strategie geändert, aber dies möchte ich nicht zum wiederholten Mal mitmachen. Nairs hat sich immer wieder gewandelt, jetzt geht der Wandel einfach weiter, diesmal aber ohne mich. Lieber möchte ich mich selber weiterentwickeln.

Dürfen Sie nachher trotzdem noch in Nairs wirken oder haben die Neuen Angst vor Einmischung?

Die Neuen, wie Sie sie nennen, sind noch unbekannt. Das Ausschreibungsverfahren läuft.

Ich hoffe schon, dass ich nachher noch in Nairs willkommen bin. Ich hatte sehr konstruktive Gespräche mit einzelnen Stiftungsräten, und ihnen ist meine besondere Rolle sehr bewusst. Mir wurde auch suggeriert, dass ich den möglichen Wandel etwas begleiten könnte, wenn ich denn möchte. Ich sei die DNA von Nairs, hat mir einer gesagt. Tatsächlich weiss ich mittlerweile, dass gewisse Dinge gut funktionieren und andere eben nicht. Ich bin gerne bereit, meine Erfahrungen einzubringen. Die weiterhin sorgfältige Pflege wichtiger Verankerungen von Nairs in der Region und im Kanton bleiben eminent wichtig für Nairs. Insbesondere die Rumantschia muss ihren festen Platz in Nairs ausbauen.

Sind Sie an der Auswahl beteiligt?

Ja. Erst stellt der Stiftungsrat ein Auswahlgremium, macht eine Vorauswahl, und ich werde dann bei der Endauswahl dabei sein. Der Stiftungsrat – und ich auch – möchte unbedingt jemanden, der sich in der Region niederlässt, hier vor Ort Verantwortung übernimmt und nicht aus einem der Zentren im Unterland den Ort kuratieren will. Vielleicht ist es ja sogar eine Person mit engem Bezug zum Engadin?

Haben Sie denn Angst oder Bedenken um die Zukunft von Nairs?

Nein, ich habe keine Angst, ich bin voller Hoffnung und glaube daran, dass eine gute Nachfolge zu finden ist. Natürlich darf ich nicht das Gefühl haben, dass alles weiterlaufen muss wie bisher. Verbesserungen sind immer möglich. Nur hoffe ich, dass die neue Leitung das Schiff nicht von der Region abkoppelt.

Auch muss man sich immer bewusst sein, dass Nairs ein lebendiges Künstlerhaus voller Produktivität ist und keine Galerie und kein Museum. Produktionsort und Ausstellungsort sind kongruent. Dies ist die Einmaligkeit von Nairs. In diesem Sinn arbeitet Nairs aus der Basis heraus und sorgt dafür, dass das Engadin nicht ausschliesslich zum «Freiluft-Kaufhaus» für teure Kunst verkommt.

Wie ist das Verhältnis von Nairs zum Tal?

Anfänglich war die Skepsis im Tal gross. In den frühen Neunzigerjahren war Nairs auch «nur» ein Ort, an dem Künstler*innen arbeiteten. Das Ganze wurde als Fremdkörper im Tal wahrgenommen .

Mir aber war von Anfang an wichtig, dass Nairs kein Fremdkörper bleibt. Deshalb sah ich meine Hauptaufgabe darin, Nairs zu öffnen und wichtige Themen des Tals miteinzubeziehen und dabei auch über «das Fremde im Eigenen» nachzudenken (Kolloquium in Nairs 2017).

Mittlerweile ist die Wertschätzung gegenüber Nairs extrem gestiegen. Am stärksten zu spüren war dies bei der Eröffnung von Nairs nach dem grossen Umbau zum Künstlerhaus mit Ganzjahresbetrieb. Ich glaube, viele Leute haben uns diesen Schritt nicht zugetraut. Das hat uns nochmals extrem Schub gegeben. Die Sanierung hat wahnsinnig viel gebraucht, weil wir dadurch noch sichtbarer geworden sind. Nicht zuletzt hat dieser Umbau auch die Gemeinde dazu animiert, uns finanziell «richtig» zu unterstützen.

Früher war Nairs ein altes Badehaus, heute ein moderner Kunstbetrieb. Ist das auch eine Art Denkmal für Sie?

Nein, niemals. Man würde mich vollkommen falsch verstehen, wenn man denken würde, dass ich oder wir das vor allem für mich gemacht hätten, ausser, man versteht Denkmal im Wortsinn als «Denk mal nach» und als lebendigen Prozess. Dass die Sache und die «Mission» von Nairs wichtig sind, das ist schon so, das ist meine tiefe Überzeugung, und dafür stehe ich auch ein. Zudem habe ich den ganzen Umbau des nationalen Denkmals und die Umwandlung nicht alleine zustande gebracht, sondern nur zusammen mit vielen engagierten und kompetenten Menschen. Ohne diese wäre es gar nicht möglich gewesen. Mit dem Umbau war auch das Ziel verbunden, das Gebäude so zu erhalten und gleichzeitig weiter zu denken, dass es auch für verschiedene Nutzungen offen bleibt und neu «gedacht» werden kann.

Wenn es nur um den Personenkult gegangen wäre, dann wäre Nairs schon lange obsolet geworden. Und dann hätte ich auch nicht 25 Jahre lang anderen eine Bühne gegeben.

Dafür habe ich aber viel bekommen, immer wieder unglaublich tolle Begegnungen gehabt. Besonders beeindruckt hat mich die Zusammenarbeit vor kurzem mit dem Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge. Solchen Menschen zu begegnen und mit ihnen zu arbeiten, ist das grösste Glück. Das ist pure Inspiration für mich und damit meine Nahrung.

Viele Künstler*innen waren in Nairs, welche haben Sie am meisten beeindruckt?

Da gäbe es natürlich Unzählige zu nennen. George Steinmann, er war der erste Kurator des Hauses in den 80ern. Er hat ganz früh mit transdisziplinären Veranstaltungen begonnen. So hat er Wissenschaft, Kunst und das Publikum zusammengebracht, als dies noch kaum jemand gemacht hat und wurde dafür belächelt und nicht ernst genommen. Pioniere werden oft belächelt, weil sie weit voraus sind in ihrem Handeln. George hat seinen eigenen Zugang zum Ort gefunden und beispielsweise mit Mineralien aus dem «Engadiner Fenster» gearbeitet, was er heute noch tut. Er hat immer proklamiert, dass Kunst gesellschaftsrelevant ist und sich einmischen soll. George ist ein guter Freund von mir geworden. Wir teilen viele Ansichten zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft.

Beeindruckend ist auch Isabelle Krieg. Sie ist eine tolle, stark mit dem Ort verbundene Künstlerin. Sie war hier anfangs der 2000er-Jahre als Stipendiatin und hat sich dem Fluss und der Kraft des Ortes hingegeben. Beispielsweise, indem sie ein leichtes Mobile mit Schwemmholz aus dem Inn geschaffen hat. Die «Wolkenbrote» waren ebenfalls sehr eindrücklich: Ausgehöhlte, von innen beleuchtete Brote, ebenfalls als Mobile arrangiert, als Echo auf den grossen Tisch im Haus und den abendlichen Gewitterwolken hoch über Nairs.

Und dann ist da noch Ralph Hauswirth, mit dem ich 1991 in Nairs als Stipendiat war. Danach haben wir über Jahre gemeinsam gearbeitet, immer wieder auch für dieses Haus. Ralph war «guter Geist», Techniker und eben auch selbst aktiver Künstler. Er hat einen äusserst inspirierenden Umgang mit diesem Ort gefunden. Davon zeugten unter anderem seine schwebenden Steine bei der Eröffnungsausstellung 2016. Erst spät hat Ralph entdeckt, dass sein Grossvater, Valentin Koch, 1913 das Bäderhaus entworfen hat. Eine unglaubliche Koinzidenz stellte sich da ein: Beim Umbau mahnte er uns Architekten dann immer wieder, das Haus seines Grossvaters nicht zu beschädigen. Ralph hat mich 30 Jahre lang in Nairs begleitet, und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Momentan gestaltet er ein Buch über «sein» Nairs.

Mittlerweile haben rund 1000 Kunststschaffende ihr Stipendiat in Nairs verbracht. Gab es auch solche, die in Nairs ihre Karriere starteten?

Unzählige Künstler*innen haben Nairs während ihres Aufenthalts, meist aber rückblickend, als Ort der Transformation empfunden. Lebenslinien weisen nicht selten nach einem Aufenthalt am Inn einen Knick auf, weil – lässt man sich darauf ein – der Ort etwas mit einem macht. Es gibt also ein «Vor-Nairs», ein «In-Nairs» und ein «Nach-Nairs». Bei den einen führt das Vordringen zur Essenz oder zum Sinn im Tun zu tatsächlichen Karrieresprüngen, weil die Arbeit einfach stärker und authentischer wird. Andere werden erst richtig gewahr, dass der Wert der Kunst nicht in ihrem Marktwert, sondern in ihrem «inneren Sinn» und in ihrer radikalen Eigenständigkeit besteht, was den Weg zum Erfolg nicht selten verzögert. Aber das ist gut so. Orientiert sich die Kunst an der Karriere, ist sie bereits verloren. Wie viele ausgezeichnete Künstler*innen gibt es, die keine Karriere im ökonomischen Sinn gemacht haben.

Wie waren die Reaktionen der Kunstschaffenden auf Ihr Aufhören?

Die Reaktionen auf meinen Schritt könnten unterschiedlicher nicht sein. Die einen Künstler*innen können es kaum glauben, weil ich nach Jahrzehnten quasi selber zur Institution, zu «Mister Nairs», geworden bin. Andere haben mich auch immer wieder ermuntert, doch meine eigene künstlerische Tätigkeit zu intensivieren. Diese sind froh, dass ich den Schritt nun mache. Künstler*innen sind meist offen für das Neue, für Veränderung. Und einige sehnen sich den Generationenwechsel seit Längerem herbei. Der Moment ist richtig. Ich selber habe jahrelang darauf hingearbeitet, dass die Fundaziun Nairs als Institution auch ohne mich zukunftsfähig wird. Ich glaube daran, dass dieser Punkt nun erreicht ist.

Was machen Sie nach Ihrer Zeit in Nairs?

Ja, ich bin tatsächlich ein Macher. Auch wenn ich mich aufs Zeichnen und Schreiben zurückziehe, resultieren daraus meist Konzepte für Dinge, die zur Realisierung drängen: Möbel, Modelle, Objekte, Häuser. Grundsätzlich freue ich mich auf noch mehr Freiraum, auf mehr Zeit im Atelier, wo ich meine künstlerischen und architektonischen Arbeiten intensivieren möchte. Ich werde mir mehr Zeit einräumen, neue Räume zu erschliessen, Neues zu erproben, Menschen zu begegnen, mehr Cello zu spielen. Vielleicht sogar mehr zu reisen.

Christof Rösch ist seit 25 Jahren künstlerischer Leiter in Nairs, dem Künstlerhaus und Zentrum für Gegenwartskunst. Dies wird nun seine letzte Saison werden, danach gibt Rösch die Leitung ab. Christof Rösch ist Bildhauer, Architekt, Spezialist für Gegenwartskunst und Kunst im öffentlichen Raum.

Christof Rösch, «Mister Nairs», geht in seine letzte Saison als künstlerischer Leiter.
Christof Rösch, «Mister Nairs», geht in seine letzte Saison als künstlerischer Leiter. © Mayk Wendt

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