Die Büvetta Tarasp. Ein Fels droht die Trinkhalle unter sich zu begraben.
Die Büvetta Tarasp. Ein Fels droht die Trinkhalle unter sich zu begraben. © Dominik Täuber

Die sich auch fürs Tal einsetzen

Jürg Wirth Meist gaben die Ferien den Ausschlag, dann erstanden sie vielleicht eine Wohnung im Tal und seither kommen sie immer wieder. Einzelne von ihnen ziehen ganz hierher und nicht wenige setzen sich fürs Leben im Tal ein: die Zweitheimischen.

Zu wenig Wohnungen für Einheimische ist gegenwärtig das Thema Nummer 1 im Engadin. Da ist es dann jeweils nur ein kleiner Schritt bis zu den Zweitwohnungen und den darin wohnenden Zweitheimischen. Diese kommen in dieser Diskussion meistens nicht so gut weg. Mitunter ist sogar von «Zweitwohnungen hamstern» die Rede. Dabei geht aber gerne vergessen, dass viele Zweitheimische durchaus zum Leben im Tal beitragen. So frequentieren sie regelmässig die ansässigen Läden, beauftragen hiesige Handwerker für ihre Umbauten, und nicht wenige engagieren sich aktiv in Vereinen, Organisationen und leisten dort Freiwilligenarbeit und hohen Einsatz. Stellvertretend für diese sollen die folgenden Beispiele dienen. Die Liste ist selbstverständlich nicht abschliessend.

Der Präsident von Pro Büvetta

Werner Reichle wohnt in Uster und betrieb dort bis zu seiner Pensionierung ein Architekturbüro. Sein erster Kontakt mit dem Unterengadin war Scuol. Dort konnte er ab und an die Ferienwohnung eines Bekannten mieten. Von Anfang an gefielen Reichle und seiner Familie die Gegend und die Natur und mit seinem geübten Architektenauge stellte er rasch fest, dass alles noch mehr oder wenig intakt ist, dies im Vergleich zum Oberengadin. Also kamen sie immer wieder und konnten vor zehn Jahren in Sent eine Eigentumswohnung kaufen. Er selbst reist nebst verlängerten Wochenenden mit seiner Frau zwei- bis dreimal für Ferien an, doch auch seine Kinder seien oft in der Wohnung.

Ja, und dann war da das mit der Büvetta am Innufer in Tarasp. Rolf Zollinger, umtriebiger ehemaliger Hoteldirektor des Waldhauses in Tarasp, führte Reichle einst an einem kalten Wintertag durch die Trinkhalle gegenüber vom Hotel Scuol Palace. Und Reichle war begeistert und erwähnte gegenüber Zollinger, dass er am Gebäude und auch an dessen Zukunft interessiert sei. Zwei bis drei Monate später klingelte Reichles Telefon, und Rolf Zollinger lud ihn gemeinsam mit Christof Rösch zu einem Bier ein. Zu dritt diskutierten sie, wie die Trinkhalle zu retten wäre. Wie fast immer, wenn mindestens drei Schweizer zusammen sind, mündete die Rettung in der Gründung eines Vereins. Pro Büvetta Tarasp heisst dieser und brauchte natürlich einen Präsidenten… Sie ahnen es, niemand riss sich um dieses Amt, also übernahm Werner Reichle und begann damit, den Verein aufzubauen. Das war vor zehn Jahren, mittlerweile zählt der Verein 170 Mitglieder und Reichle blickt der Rettung zuversichtlich entgegen. Anfangs sei die Sache eher harzig verlaufen. Er habe gedacht, in fünf Jahren wäre die Sache erledigt, doch der Eindruck täuschte, und jetzt sind es schon zehn Jahre. Jetzt hätten sie einen Projektleiter und seien in engem Kontakt mit dem Kanton, der kantonalen Denkmalpflege und dem Amt für Wald und Naturgefahren. Mit einem halben Jahr rechnet Reichle noch, bis der Kanton und die Gemeinde Scuol das Geld für die Felssanierung freigeben. Denn dieser Fels ist das grosse Problem und droht die Trinkhalle – sie liegt heute in der Gefahrenzone – unter sich zu begraben. Sei der Fels saniert, würden sich Denkmalpflege und Bund substanziell an der Renovation der Trinkhalle beteiligen. Bis dahin braucht es aber noch etliche Sitzungen und vollen Einsatz des Zweitheimischen Werner Reichle.

Werner Reichle ist pensionierter Architekt und Präsident der Stiftung Pro Büvetta Tarasp.
Werner Reichle ist pensionierter Architekt und Präsident der Stiftung Pro Büvetta Tarasp. © zvg

Die freiwillige Kinooperateurin

Eva Dym Silberring besitzt zusammen mit ihrem Mann und den Töchtern seit einem Jahr eine Wohnung in Ardez. Zuvor waren sie acht Jahre zur Miete im malerischen Engadiner Dorf und davor oft im Unterengadin in den Weihnachtsferien. Ihre Tochter sei einst in Ardez in den Ferien gewesen und hätte so von diesem Ort geschwärmt und die Eltern quasi genötigt, dort die Familienferien zu verbringen. Nicht lange darauf waren auch Eva und Pawel äusserst angetan vom Ort und mieteten besagte Wohnung. Ihr gefalle die Ruhe im schönen Ort, auch dass die Leute so freundlich seien. In Ardez könne sie runterfahren, sagt Eva Dym. Das hatte sie noch mehr nötig, als sie noch arbeitete und in der Stadt Zürich wohnte. In Zürich wohnt sie noch immer, allerdings ist sie mittlerweile pensioniert und muss deshalb nicht mehr so stark runterfahren. Dafür hat sie jetzt noch mehr Zeit, um Romanisch zu lernen. Gerne probiert sie das Gelernte auch gerade auf der Strasse aus und stellt fest, dass die Leute vom Dorf es sehr schätzen, wenn sie versuche, mit ihnen in der Muttersprache zu reden.

Kulturell interessiert sei sie, sagt die zierliche Frau, deshalb besuche sie gern Konzerte, gehe ins La Vouta oder auch an Veranstaltungen in Nairs. Und seit Ostern ist sie Mitglied im Verein Bistro Staziun in Lavin und engagiert sich dort beim Kino. Alle paar Wochen amtet sie als Operatrice. Sie sei ein Gemeinschaftsmensch und könne diese Vorliebe in Kombination mit dem kulturellen Interesse als Kinomitbetreiberin prima ausleben, sagt die Zweitheimische aus Ardez, die ihre Wohnung dank des neuen Lebensabschnittes künftig noch häufiger nutzen will. Diese Wohnung sei ein grosses Glück, sagt sie.

Eva Dym Silberring verbringt viel Zeit in Ardez und hilft freiwillig im Cinema Staziun in Lavin.
Eva Dym Silberring verbringt viel Zeit in Ardez und hilft freiwillig im Cinema Staziun in Lavin. © zvg

Die Geschäftsführerin der Tessanda Val Müstair

Ins Val Müstair ist Maya Repele zum ersten Mal 2011 wegen ihres damaligen Freundes gekommen. Der besass ein Haus im Tal. Zuvor hätte sie diese Gegend überhaupt nicht gekannt. Nur Ferien schienen ihr aber bald zu langweilig zu sein, denn bereits 2015 nahm sie das Amt als Stiftungsrätin in der Handweberei Tessanda an. Wegen interner Probleme war dieses Engagement nur von kurzer Dauer und bereits im November legte Repele ihr Amt wieder nieder. Ins Val Müstair kam sie aber immer wieder. Als der im 2017 vom Kanton eingesetzte Sachwalter einen komplett neuen Stiftungsrat rekrutieren musste, fragte er auch Repele an und sie willigte als fünftes Mitglied des Rates ein. Nun ging es darum, die Tessanda neu aufzugleisen – den Turnaround anzustreben. Maya Repele arbeitete viel dafür in dieser Zeit und immer von Zürich aus, nebst ihrer Selbstständigkeit. So viel, dass schlussendlich ihr eigenes Geschäft darunter litt. Deshalb wollte sie aus dem Stiftungsrat austreten. Die anderen Mitglieder schlugen ihr jedoch vor, die Geschäftsleitung zu übernehmen, gegen Lohn, im Gegensatz zum ehrenamtlich tätigen Stiftungsrat.

Sie liess sich darauf ein, führt seit April 2019 die Tessanda als Geschäftsleiterin und hat mittlerweile ihren Wohnsitz ins Tal verlegt. Seit Sommer nähme sie nun vermehrt das Alltagsleben wahr, sagt sie. Bis dahin kam sie vor lauter Arbeit kaum dazu. Mittlerweile hat sich der Betrieb aber stabilisiert, läuft gar gut. Sie erkennt, dass der Wechsel mitten aus der Stadt Zürich ins abgelegene Tal nicht ganz so einfach ist, wie anfangs gedacht. Sei es wegen der Vielzahl von Restaurants mit ihren innovativen Konzepten, die es in der Stadt gibt, der unzähligen Kulturangebote und natürlich der ganzen Freunde und Bekannten, die sie in Zürich spontan und häufig treffen konnte. Ihr sei in diesem Jahr so richtig bewusst geworden, wie sehr sich ihr privates Leben mit dem Umzug verändert habe. Eine Erkenntnis, die nur machen kann, wer tatsächlich für längere Zeit an einem neuen Ort lebt. Eine Erkenntnis aber auch, welche die Geschäftsfrau mit den guten Ideen und dem grossen Einsatz für die Tessanda hoffentlich nicht daran hindert, weiterhin im Tal wohnen zu bleiben – als Ansässige.

Maya Repele ist mittlerweile im Val Müstair ansässig und leitet die Tessanda.
Maya Repele ist mittlerweile im Val Müstair ansässig und leitet die Tessanda. © zvg

Der ehemalige Tourismusdirektor

«Als Tourismusdirektor hatte ich das Glück, 11 Jahre in der Ferienregion Engadin Scuol Samnaun leben, arbeiten und wohnen zu dürfen. Als Familie haben wir ein Haus gebaut, welches wir nach unserem Wegzug verkauft haben. Im gleichen Haus profitieren wir jetzt vom Privileg, die Ferienwohnung weiterhin zu mieten. Die Nationalparkregion bleibt für mich – gemessen an den mir wichtigen Werten – die konkurrenzlos attraktivste Ferienregion der Schweiz. Meine aktuelle Wirkungsstätte – der Niesen im Berner Oberland – hat andere, nicht austauschbare Eigenschaften und Vorteile. Mein Herz schlägt nach wie vor zu einem grossen Teil für das Unterengadin. Womit auch gesagt ist, was mir meine ehemalige Ferienregion bedeutet: Rückzugsort und damit Ort der Regeneration, Ort der landschaftlichen Exklusivitäten, Region der verwurzelten Einheimischen und der wahren, wohltuenden und romanischen Begegnungen. Die Exklusivität und Qualität der Landschaften, der Angebote, der Ortsbilder, einzigartigen Handwerks und einiger kulinarischer Unschlagbarkeiten wie auch die Menschen sind für mich als (leider zu wenig oft) «Zweitwohnender» von derart hohem Wert, dass sich das «Heimkommen» immer lohnt. Unser Zweitwohnsitz ist auch eine Heimat, wo man sich wohlfühlt. «Je weniger oft, desto wertvoller der Ort». Oder: «Was einen nicht ständig umgibt, wird wertvoller». Zweitwohnende sind immer auch Botschafter*innen, vielleicht manchmal mit etwas verklärtem Blick, aber auf jeden Fall leidenschaftlich. Nebst mir als Typ Zweitwohnender, der einmal in der Region arbeitete, gibt es andere Arten von Zweitheimischen. Alle mit ihren Eigenschaften, der Ferienregion aber immer stark verbunden.»

... Und wie die Beispiele zeigen, wovon es noch viele weitere gibt, auch interessiert am Leben in der Region und deshalb dafür engagiert.

Urs Wohler war Tourismusdirektor in Scuol und hat mittlerweile mit seiner Familie zusammen eine Mietwohnung in Scuol.
Urs Wohler war Tourismusdirektor in Scuol und hat mittlerweile mit seiner Familie zusammen eine Mietwohnung in Scuol. © zvg

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