Wir müssen es schaffen, nicht einzugreifen

Jürg Wirth Ruedi Haller ist seit 2019 Direktor des Schweizerischen Nationalparks und seit letztem Jahr Präsident des Club da Hockey Engiadina. Im Interview mit dem ALLEGRA zeigt er Gemeinsamkeiten auf und erklärt seine Faszination für die beiden verschiedenen Gebiete.

Wo liegen die Gemeinsamkeiten zwischen Nationalpark und Club da Hockey Engiadina?

Bei beiden Organisationen geht es um Menschen. Als Direktor habe ich mit den Mitarbeitenden des Parks zu tun. Als Präsident des Hockeyclubs bin ich gleichermassen mit operativen und strategischen Aufgaben betraut, habe mit der Administration zu tun und muss Geld beschaffen. Bei beiden entsteht aber auch ein Netzwerk im Umfeld, das über die beiden Organisationen hinausreicht. So lerne ich neue Leute kennen, die ich ohne die Aufgaben nicht getroffen hätte, und tatsächlich entstehen dabei zum Teil auch Verbindungen zwischen den beiden Gebieten.

 

Nationalparkdirektor ist ein ehrenvoller Job, Hockeypräsident bedeutet viel Arbeit, wenig Ruhm und Ehrenamt. Wieso macht man das?

Ins Eishockey bin ich über meine Kinder reingerutscht. Unsere zwei Buben wollten Hockey spielen, also habe ich sie ins Training gebracht. Ich habe dann immer mehr geholfen, bei der Zeitnahme oder als Speaker. Selber habe ich nie Hockey gespielt, dafür Volleyball, so hatte ich auch eine Trainerausbildung. Deshalb bin ich Nachfolger von Lüzza Bott nach dessen Tod geworden, als Chef Nachwuchs im Vorstand. Als dann der vormalige Präsident aufgehört hat, war es im Vorstand eine kurze Diskussion, dass ich seine Nachfolge übernehme. 

Tatsächlich hilft mir dieses Ehrenamt aber auch ab und zu für das Netzwerk im Nationalpark. Ich bekomme so Kontakt zu Personen, denen ich sonst kaum begegnen würde. Das ist gut, aber natürlich mache ich das nicht deswegen. 

 

Was fasziniert Sie am Hockey?

Hockey ist eigentlich ein «Ballsport» und vor allem ein Mannschaftssport. Ich bin fasziniert von der Koordination, die es dazu braucht. Die Faszination für Eishockey ist auch mit der Entwicklung der Buben gewachsen. Mittlerweile spielen sie zwar nicht mehr beim Club da Hockey Engiadina, sondern der eine in Arosa und der andere im Nachwuchs des HC Davos, ich aber bin dem Verein im Unterengadin treu geblieben. 

 

Was sind die grössten Herausforderungen im Vereinsleben, wie schwierig ist es, genügend Leute und Junior*innen zu finden?

Die grösste Herausforderung ist sicherlich, jedes Jahr das Budget zu stemmen. Dieses liegt bei rund 300'000 Franken pro Jahr. Allein die Abgaben für die Eishalle betragen mehrere 10'000 Franken jährlich. Im Vergleich dazu ist zum Beispiel die Sportart Schwimmen viel günstiger. Die Fahrten für drei Mannschaften zu den Auswärtsspielen kosten weitere CHF 40'000. Den gesamten Betrag decken wir auch dank vielen kleinen und kleineren Sponsoren. 

Die Zusammenarbeit im Vorstand ist sehr gut, weil der Vorstand sehr erfahren ist und alle wissen, was sie zu tun haben. 

Was den Nachwuchs angeht, so ist das nicht mehr mein Job, sondern die Arbeit unseres Coachs Benny Wunderer und weiterer Vorstandsmitglieder. Das funktioniert ausgezeichnet.

Die Herausforderung bei der 1. Mannschaft ist auch, dass wir zu den wenigen Teams auf diesem Niveau gehören, die auch den Schlüsselspielern keine Entschädigung bezahlen. Auch deshalb spielen bei uns vor allem Spieler*innen, die im Tal wohnen und hier spielen wollen. 

 

Mit Hockey Grischun Sud arbeiten die Clubs in der Gegend nun im Nachwuchsbereich überregional zusammen. Zahlt sich das aus?

Ja, auf jeden Fall. So können wir den Spieler*innen das bieten, was sie wollen, zum Beispiel beim Training. Wer will, kann einmal die Woche trainieren, andere können aber auch zwei- oder dreimal in die Eishalle kommen. Die neue Organisation mit Grischun Sud rührt auch daher, dass es sonst fast nicht mehr möglich ist, auf jeder Stufe ein Team zusammenzustellen. So aber geht das. Wir haben in Scuol zusätzlich den Vorteil, dass wir fast das ganze Jahr Eis haben. St. Moritz kann die Linien aufgrund der Sonneneinstrahlung erst ab Ende September zeichnen und auch Poschiavo oder Samedan haben erst im Herbst Eis. Das heisst aber nicht, dass die einzelnen Clubs aufgelöst oder fusioniert werden. Denn Ziel ist es auch, dass die Spieler*innen, die in den Stammclubs ausgebildet werden, nachher auch in diesen spielen sollen.

 

Was fasziniert Sie am Nationalpark? 

Mich fasziniert vor allem das Nicht-Eingreifen in die Natur. Wir Menschen haben immer das Gefühl, wir müssten eingreifen, doch aus Sicht der Natur ist das nicht der Fall. Man kann die Natur getrost machen lassen. Aber das braucht viel Energie und Einsatz des Teams. Früher lautete der Ansatz «no management», was nicht stimmt. Wir arbeiten hart, damit die Menschen verstehen, dass es keine Intervention, eben «no intervention», braucht. Diese Erkenntnis fasziniert mich sehr.

 

Und deshalb sind Sie auch ins Engadin gekommen?

Ja, ich bin 1997 hierhergekommen, um das geografische Informationssystem aufzubauen. Der Vorteil dabei war, dass ich dadurch in die verschiedenen Ökosysteme und geografischen Gebiete des Parks gesehen habe. Auch liessen sich durch die Langzeituntersuchung neue Erkenntnisse gewinnen. So hiess es lange: «Die Verbreitung des Tannenhähers führt zu einem Lärchen- und Arvenwald», doch es war die letzten 8000 Jahre am Ofenpass ein Bergföhrenwald. Die Erkenntnis, dass sich dieses Ökosystem unter natürlichen Verhältnissen quasi selbst erhält und Bergföhren – auch das ist neu – über 400 Jahre alt werden, ist ein Beispiel, dass es auch nach so langer Zeit im Nationalpark spannend bleibt. Ein andere ist, dass die Huftiere von der Verteilung der Vegetation profitieren, sie aber auch gleichzeitig beeinflussen. Die Hirsche bewahren ihre Weide, indem sie dort grasen und gleichzeitig düngen. 

 

Wo liegen dort die Herausforderungen?

Die Herausforderungen aller im Nationalpark engagierten Personen ist grundsätzlich die, die Menschen zu überzeugen, dass die Natur auch ohne uns Menschen gut auskommt. 

 

Aber da müssen dann keine Leute abgebaut werden?

Jedenfalls nicht wegen des Konzepts: Wir brauchen alle im Team, allerdings haben wir im Moment schon ein finanzielles Problem, da der Bund den Beitrag für nächstes Jahr kürzen will. Das wäre das erste Mal in all den Jahren, seit ich beim Nationalpark arbeite. 

 

Sie sind jetzt rund 25 Jahre beim Nationalpark, sehen Sie da schon Veränderungen in der Natur?

Ja, durchaus, vor allem auch durch die Klimaerwärmung. Die Pflanzen steigen quasi in die Höhe und im tieferen Bereich verändert sich die Zusammensetzung der Vegetation. Wir können mittlerweile aber auch beobachten, dass sich die Artenzusammensetzung auf den Weiden inner- und ausserhalb des Parks verändern, also diejenigen, die durch Nutztiere aussen und Hirsche im Innern des Parks genutzt werden.

 

Und welche Veränderungen sind über längere Distanzen respektive Zeiten zu beobachten?

Zum Beispiel, dass die Murgänge gewissen Wellenbewegungen unterliegen. Das heisst, die letzten 80 Jahre war es relativ ruhig, jetzt nehmen die Murgänge zu, was sicher auch mit den gegenwärtigen Niederschlagsmengen zu tun hat. Aber nach einigen Murgängen stellt sich dann wieder eine gewisse Ordnung ein und die Lage beruhigt sich wieder. Das können wir aus Forschungsarbeiten ableiten, welche mehrere hundert Jahre in die Vergangenheit «schauen».

Allerdings sind solche längerfristigen, natürlichen Prozesse nur zu erkennen, wenn wir nicht in die Natur eingreifen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir es schaffen, dies auch wirklich nicht zu tun.

 

Dann braucht es den Nationalpark auch deswegen?

Ganz unbedingt. Wir brauchen den Nationalpark auch, um zu zeigen, dass sich die Dinge anders entwickeln, wenn wir nicht eingreifen. 

Und das ist übrigens durchaus auch das, was die Leute sehen wollen. So hatten wir dieses Jahr so viele Leute in der Cluozza-Hütte wie noch nie. Dies, obwohl die Gästezahlen in der Region tiefer waren. Bei uns wollen die Gäste die Wildnis erleben, das können sie beispielsweise auf unseren Exkursionen. Und dabei sehen sie, was passiert, wenn man nicht eingreift. Etwas, was es sonst eigentlich nirgends mehr zu sehen gibt.

 

Sie erwähnen die vielen Gäste im Nationalpark. Gibt es da auch irgendwo Grenzen und ist beispielsweise geplant, die Parkplätze aufzuheben? 

Wir haben bereits drei Parkplätze abgeschafft, denn unser Ziel ist es, dass die Leute mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Deshalb freuen wir uns sehr über die Gästekarte der hiesigen Tourismusdestination und arbeiten bei der Anreise mit dem öV seit langem mit der Deutschen Bahn zusammen. So haben wir gerade Ende September einen Sonderpreis der Deutschen Bahn für unser Engagement zur Förderung der nachhaltigen Mobilität in der Nationalparkregion erhalten. Unser Ziel ist es auch, dass die Forschenden und die Mitarbeitenden vor allem mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. 

 

Und wie stark und gut ist die Zusammenarbeit mit dem hiesigen Tourismus?

Sehr gut, vor allem im Tagesgeschäft ist die Zusammenarbeit problemlos. Mit der TESSVM teilen wir seit 2008 die Theke im Nationalparkzentrum und das klappt ausgezeichnet. Was die gemeinsame Angebotsentwicklung betrifft, bauen wir auf unsere eigenen Stärken. Auch mit den Partnern des UNESCO-Biosphärenreservats ist die Zusammenarbeit gut.

 

Eben hat sich im Nationalpark ein Wolfsrudel gebildet, da ist die Begeisterung dafür nicht überall gleich gross. Wie gehen Sie damit um?

In erster Linie nimmt es mich wunder, was die Wölfe im Nationalpark anders machen als an anderen Orten und wie sie sich durch das Nicht-Eingreifen entwickeln. Dann glaube ich auch, dass der Wirbel um dieses Thema mit der Zeit etwas abflauen wird. Wir werden uns daran gewöhnen. Vor 50 Jahren gab es grossen Wirbel um die Rothirsche. So mussten damals Studierende die Nationalparkhirsche abends wieder in den Nationalpark treiben, damit sie den Hirten nicht die Weiden leerfrassen. Heute haben wir dieses Thema dank dem Wildtier-Management-System im Griff. 

Ganz sicher wird es auch bei den Wölfen ein Management geben, in dem Sinne, dass je nachdem Tiere geschossen werden. Und selbstverständlich braucht es auch Schutzmassnahmen für Nutztiere.

Aber es gilt auch zu sagen, dass sich die Alt-Wölfe bisher relativ nahe an der Ofenpassstrasse bewegten, ohne dass sie im Laufe des Sommers von Gästen oder Parkmitarbeitenden beobachtet worden wären. 

 

Wie eingangs erwähnt, sind Sie Direktor des Parks und Präsident des Hockeyclubs. Wo hören Sie zuerst auf?

Eigentlich hatte ich immer die Devise, dass ich nicht im Park pensioniert werden will und deshalb in Abschnitten von zwei bis vier Jahren geplant. Allerdings bin ich mittlerweile schon 57 Jahre alt, und von daher könnte es nun doch sein, dass ich im Park pensioniert werde. 

Beim Hockey habe ich mir gesagt, dass ich so mit 60 an jemanden Jüngeren übergeben werde.

Ruedi Haller ist Direktor des Schweizerischen Nationalparks und als solcher oft im Büro.
Ruedi Haller ist Direktor des Schweizerischen Nationalparks und als solcher oft im Büro. © zvg
Immer wieder ist Haller auch draussen im Park anzutreffen.
Immer wieder ist Haller auch draussen im Park anzutreffen. © zvg

Ruedi Haller arbeitet seit rund 25 Jahren im Nationalpark und ist seit 2019 dessen Direktor. Seit letztem Jahr ist er auch Präsident des Club da Hockey Engiadina, nachdem er dort zuvor in verschiedenen Funktionen tätig war.

Haller wohnt gemeinsam mit seiner Frau Barbara in Ardez, die drei Kinder sind mittlerweile Wochenaufenthalter an anderen Orten. Die beiden Söhne spielen ebenfalls Hockey, einer in Arosa, der andere im Nachwuchs des HC Davos. Die Tochter studiert Physiotherapie und absolviert zurzeit ein Praktikum, ebenfalls beim HC Davos. Ruedi Haller stammt ursprünglich aus Stetten im Kanton Aargau.

Das könnte Sie auch interessieren