Sommer- und Winterlebensräume für Gämsen

Pia Anderwald Verschiedene Tierarten haben sich im Laufe ihrer Evolution an bestimmte Lebensräume angepasst. Dabei gibt es Spezialisten und Generalisten. Bevorzugte Gebiete können mit sogenannten Habitatmodellen ermittelt und dadurch Rückschlüsse auf wichtige Bedürfnisse einer Art gezogen werden.

Artspezifische Anpassungen

Körperbau, Physiologie und Verhalten einer Art sind fein abgestimmt auf möglichst effiziente Nahrungsaufnahme, Reproduktion und Vermeidung von Fressfeinden unter den Umweltbedingungen, die ihr während ihrer Entwicklungsgeschichte zur Verfügung standen. Individuen einer Art suchen sich also nach Möglichkeit diejenigen Lebensräume (=Habitate) aus, die aktuell am besten zu ihnen passen. So können sie unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Stärken und Schwächen ihre Überlebens- und Reproduktionschancen maximieren.
Unter unseren einheimischen Huftieren sind Steinbock und Gämse besser an das Hochgebirge angepasst als Rothirsch oder Reh. Davon zeugt die Körperform (gedrungenerer Körper mit kräftigen Beinen bei den Kletterern Steinbock und Gämse, und hochbeinigere und schlankere Statur bei den beiden Läufern Hirsch und Reh). Auch bei den Hufen gibt es deutliche Unterschiede. Diejenigen von Steinbock und Gämse besitzen eine harte Aussenschale mit einem weichen Ballen, der die Haftung auf dem Felsen erhöht. Entsprechend unterscheiden sich die beiden Gruppen aufgrund ihrer körperlichen Anpassungen auch in ihrem Feindvermeidungsverhalten: Gämse und Steinbock ziehen sich bei Gefahr in unzugängliches, steiles und felsiges Gelände zurück, während Rothirsch und Reh davonlaufen.

Abb.1. Dank «Gummibehufung» sind die Felsen für diese Steingeiss mit Jungen ein idealer Rückzugsort.
Abb.1. Dank «Gummibehufung» sind die Felsen für diese Steingeiss mit Jungen ein idealer Rückzugsort. © SNP

Habitat-Modelle

Ein wichtiger Faktor im Gämslebensraum sind also Felsen. Allerdings ist dies natürlich nicht das einzige Habitatmerkmal, das ein gutes Zuhause für die Art ausmacht. Welche anderen Umweltbedingungen zusätzlich erfüllt sein müssen, lässt sich mithilfe von Habitatmodellen ermitteln. Das Prinzip dabei ist einfach: dort, wo sich die Tiere viel aufhalten, fühlen sie sich offenbar am wohlsten. Da der Schweizerische Nationalpark (SNP) einen relativ ungestörten Lebensraum bietet, eignet er sich sehr gut als Untersuchungsfläche.

Nachdem die Geografen die Vorarbeit geleistet und alle wichtigen Lebensraumfaktoren im Studiengebiet erfasst und in hoher Auflösung (bis zu 2m) digital zugänglich gemacht haben, können nun die Biologen ans Werk. Diese bestimmen die Aufenthaltsorte einer genügend hohen Anzahl an idealerweise GPS-besenderten Individuen. Die tatsächlichen Aufenthaltsorte vergleichen sie mit Standorten, wo die Tiere zur gleichen Zeit auch hätten sein können, aber nicht waren. Fertig ist das Habitatmodell.

Abb. 2.  Lebensraumwahl von Gämsen im Winter. Die grünen Flächen stellen die bevorzugten Aufenthaltsgebiete dar.
Abb. 2. Lebensraumwahl von Gämsen im Winter. Die grünen Flächen stellen die bevorzugten Aufenthaltsgebiete dar. © SNP

Anwendung auf Gämsen im SNP

Anhand der Positionen von 48 im SNP mit GPS-Halsbändern ausgestatteten Gämsen liessen sich die bevorzugten Lebensräume in der Region sowohl für den Sommer (Juli bis Oktober) als auch für den Winter (Dezember bis April) ermitteln. Für den Winter ergab sich eine in der Karte sehr offensichtliche Bevorzugung von süd- bis südostexponierten, relativ steilen Hängen (Abb. 2). Diese wichtige Habitatwahl hilft den Tieren nicht nur dabei, leichter an Futter zu kommen, sondern auch bei ihrer Wärmeregulation. Südöstlich exponierte Bergflanken werden im Winter nach Tagesanbruch als erste von der Sonne beschienen und ermöglichen so den Gämsen ein morgendliches «Sonnenbad». So können sie sich nach der eiskalten Nacht wieder aufwärmen. Zudem schmilzt gerade hier auch der Schnee am schnellsten und erleichtert damit den Zugang zur ohnehin schon spärlichen pflanzlichen Nahrung. In steilerem Gelände rutscht der Schnee besser ab. Man gewinnt den Eindruck, dass Gämsen genau wissen, wo sie im Winter die besten Bedingungen zum Überleben finden.

Abb. 3.  An den steilen Südhängen finden die Gämsen auch im Winter ihr Futter.
Abb. 3. An den steilen Südhängen finden die Gämsen auch im Winter ihr Futter. © SNP

Für den Sommer ergibt sich dagegen ein ganz anderes Bild (Abb. 4). Zu dieser Zeit bewegen sich Gämsen viel freier und verteilen sich über einen bedeutend breiteren Lebensraum. Die Art wird von einem Habitat-Spezialisten im Winter zu einem Generalisten im Sommer. Dabei können die einzelnen Individuen aber durchaus bestimmte Vorlieben haben. Während der warmen Jahreszeit ist das Nahrungsangebot um ein Vielfaches höher, und die Tiere erweitern ihren Aktionsradius. Jetzt noch einzelne spezifische Lebensraumbedingungen zu finden, auf welche die Population als Ganzes angewiesen ist, wird schwierig.

Abb. 4.  Lebensraumwahl von Gämsen im Sommer. Die Präferenzen sind weit weniger ausgeprägt als im Winter (siehe die niedrigere Skala im Vergleich zu Abb. 2).
Abb. 4. Lebensraumwahl von Gämsen im Sommer. Die Präferenzen sind weit weniger ausgeprägt als im Winter (siehe die niedrigere Skala im Vergleich zu Abb. 2). © SNP

Zweck

Was nützen nun solche statistischen Übungen? Sie geben Aufschluss über spezifische Lebensraumbedürfnisse einer Art und können so zu einem Management beitragen, das die Ökologie der Tiere so gut wie möglich berücksichtigt. Das aus den Modellen erlangte Wissen kann z.B. für die Einrichtung geeigneter Ruhezonen im Winter angewendet werden. Sie können auch dabei helfen, den Einfluss menschlicher Störung zu beurteilen.

Das grössere Bild

Die Gämse ist im Moment in ihrem Bestand nicht gefährdet. Das sieht allerdings bei vielen Arten leider ganz anders aus. Wenn es um ihren Schutz geht, muss genau bekannt sein, welche Lebensräume als potenzielle Schutzgebiete infrage kommen und welche Gebiete priorisiert werden müssen, um eine gesunde und lebensfähige Population aufrechtzuerhalten. Gerade bei Wiederansiedlungsprogrammen sind solche Kenntnisse unerlässlich. In diesem Zusammenhang besteht aber oft der Nachteil, dass bei einer ohnehin schon gefährdeten Art die Populationsgrössen zu gering sind, um verlässliche Daten über ihre Lebensraumbedürfnisse ermitteln zu können. Hier können neben vorhandenem Expertenwissen Habitatmodelle einer evtl. nahe verwandten Art mit ähnlicher Ökologie wertvolle Zusatzinformationen liefern.

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