Gion Tscharner bei der Arbeit an seinem Lexikon.
Gion Tscharner bei der Arbeit an seinem Lexikon. © Jürg Wirth

Der Hüter des Vallader

Jürg Wirth Gion Tscharner lebt in Zernez und ist Sprachliebhaber und -wissenschaftler. Begonnen hat er allerdings als Lehrer und als Pfarrer, wirklich zur Sprache gekommen ist er erst etwas später.

Selbstverständlich arbeitet Gion Tscharner gerade an seinem Lebenswerk, als ich ihn in seinem Büro in Zernez im Untergeschoss neben der Strasse zum Ofenpass besuche. Auf dem Computer hat er ein Raster geöffnet, in das er Worte einträgt, welche dann übersetzt werden, oder er sucht die Übersetzungen dafür. Gerade beschäftigt er sich mit dem Wort «Idiot», worauf er zu einem kurzen sprachwissenschaftlichen Exkurs ansetzt. «Idiot» komme aus dem Griechischen «idiṓtēs», was übersetzt gewöhnlicher, einfacher, «einspuriger» Mensch heisse, daher also auch Fachidiot. Wir alle würden immer mehr zu Idioten, erklärt er weiter, in dem Sinne, dass wir kaum mehr verschiedene Arbeiten ausführen könnten und uns für alles an Spezialisten wenden müssten. Der Sprachwissenschaftler, wie er leibt und lebt – allerdings war er das nicht von Anfang an, auch wenn ihn Sprache schon früh interessiert habe.

Lehrer in Davos

Aufgewachsen ist er in Scheid, zwischen Thusis und Chur, wo damals noch Romanisch gesprochen wurde. Bis er sieben Jahre alt war, habe er noch nie ein Wort Deutsch gehört, sagt er, auch Zeitungen habe es kaum gegeben und Radio und Fernsehen ebenfalls nicht. Gut, es ist mittlerweile auch schon fast ein Jahrhundert her, seit Tscharner in Scheid aufwuchs. Danach absolvierte er die Ausbildung zum Primar- und Sekundarlehrer und heuerte unter anderem in Davos an, welches schon damals ein Weltkurort war. Zu Tscharners Bedauern vermochten die Lehrerlöhne nicht mit den Ansprüchen eines Weltkurortes mitzuhalten. Er verdiente CHF 600 im Monat, doch bereits sein kaltes Zimmer kostete CHF 200. So traf er sich abends mit anderen Kollegen im Restaurant oder gab den Junioren Hockeytraining. Im Hinblick auf eine etwas prosperierende Zukunft entschloss er sich, die Matura nachzuholen und anschliessend zu studieren. Das alles in Zürich. Um die Ausbildung zu finanzieren, gab er nebenher noch Unterricht. Mit der Matura in der Tasche schrieb er sich 1962 fürs Theologiestudium ein. Wohl war dies nur zweite Wahl, hinter dem Romanischstudium; die Stipendien der Bündner Kirche waren entscheidend, aber auch die Aussicht, als Pfarrer sozial tätig zu sein. Er absolvierte so das Theologiestudium, besuchte aber auch die Romanistikvorlesungen und -seminare. In Zürich lernte er dann seine Frau kennen, eine Zernezerin. Sie hätten jeweils Frauen zu den Studentenfesten eingeladen, meint Tscharner verschmitzt. Gekommen seien vor allem Engadinerinnen, denn die Oberländerinnen seien an den Wochenenden immer nach Hause gereist. 1966 heiratete er Anni, geb. Tschander, und im Jahr darauf kam ihr Sohn auf die Welt. Die Erziehungs- und Betreuungsarbeit teilte er sich mit seiner Frau, welche als Kindergärtnerin arbeitete. Es folgten Stationen als Pfarrer im Val Müstair und dem Engadin, bis er 1975 mit einem Teilzeitpensum an das Lyceum in Zuoz wechselte und ab 1980 ein volles Pensum als Romanischlehrer bekam.

Sprachforscher in Zernez

1980 zügelte die Familie nach Zernez, und er ging von dort tagtäglich als Lehrer nach Zuoz ans Lyceum Alpinum bis zu seiner Pension im Jahr 2000. Im Jahre 1981 beauftragte ihn das Erziehungsdepartement GR, die ladinischen Wörterbücher zu redigieren. Mittlerweile hat er sich ein fundierteres linguistisches und lexikalisches Wissen angeeignet. Die Früchte sind das Dicziunari Puter, das Vallader und das Jauer (2022). Kurze Exkurse in die Sprachgeschichte sind bei ihm quasi integrativer Bestandteil beim Erzählen. Beispielsweise, weshalb collega, ravarenda oder guida weibliche Endungen haben, aber trotzdem männlich sind. Sprache sei eben kein mathematisches System, erklärt er. So ist auch sein Verhältnis zur Grammatik kein ganz unproblematisches. Er sähe es lieber, wenn die Kinder primär sprechen lernten und nicht beim Schreiben für orthografische Fehler bestraft würden. Grammatik sei zwar eine Art Zwangsmantel, aber eben auch ein notwendiges Übel, sagt er.

Danach schwenkt er über zur Romanisierung und zeigt auf, dass beispielsweise das Val Müstair, aber auch Scuol bis Tschlin 15 vor Christus durch Augustus' Stiefsohn Drusus vom Süden her, das übrige Engadin hingegen vor allem durch seinen Bruder Tiberius vom Westen her romanisiert wurden, weshalb die Idiome auch anders klingen würden, andere Wörter und Formen hätten. Eher pragmatisch steht er einem allfälligen Verlust des Romanischen in gewissen Gebieten gegenüber und führt dazu das Beispiel Domleschg an, wo bis tief ins 20. Jahrhundert hinein Romanisch gesprochen wurde, heute aber nicht mehr, was er aber nicht so schlimm findet. Die Domleschger hätten im Bündnerdeutsch ein neues Zuhause gefunden.

Nichtsdestotrotz setzt er sich für seine Sprache ein, weil sie momentan in den romanischen Sprachregionen noch ein gutes Werkzeug sei, Gedanken zu transportieren.

Das Romanische habe eher Mühe, die moderne, technische Welt in eine einfache Form umzusetzen, weil der romanische Fundus vor allem landwirtschaftlich geprägt sei. Neue Begriffe, Neologismen, hat er über all die Jahre kreieren müssen. Zu den letzten Neologismen gehören zum Beispiel «Abkalbebox» – bọxa da far vadè.

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