Meine Superbeere ist die Vogelbeere

Jürg Wirth Carolina à Porta ist Heilpflanzen- und Wildkräuterfachfrau. Im Interview mit dem ALLEGRA sagt sie, warum sie kaum mehr zum Arzt muss, welche ihre liebsten Pflanzen sind und was man auf keinen Fall essen sollte.  

Wogegen ist kein Kraut gewachsen?
Gegen nichts. Es gibt für alles ein Kraut oder sogar mehrere. Immer im Sinne von begleitender Heilpflanze, im Gegensatz zur Schulmedizin, die eben bekämpft.

Was hilft gegen Migräne?
Grundsätzlich Bitterstoffpflanzen wie Schafgarbe oder Löwenzahn. Allerdings ist es bei den Pflanzen nicht wie bei den Medikamenten, wo man einfach etwas geben kann. Man muss vor allem gemeinsam mit der Person, die unter Migräne leidet, herausfinden, was die Migräne begleitet respektive woher die kommt. Am wichtigsten ist, was die betroffene Person braucht, damit sie sich wohlfühlen kann. Möchte man diese wirklich behandeln, gibt es nichts anderes als Pflanzen und Dosierungen auszuprobieren und sich langsam heranzutasten.

Und wie würden Sie die Pflanzen verabreichen?
Da bieten sich verschiedene Möglichkeiten an: als Tee aus frischen oder getrockneten Kräutern, als Tinktur, das ist ein alkoholischer Auszug, oder als Heilöl, Salbe oder indem man die Pflanzen ganz einfach isst. Es gilt hier, die eigenen Vorlieben herauszufinden.

Ist denn diese Pflanzen zu essen nicht gefährlich oder wie viele der Pflanzen kann man essen?
Ich würde sagen, man kann rund 80 Prozent aller bei uns heimischen Pflanzen essen. Wirklich lebensgefährlich sind die wenigsten. Vom schwarzen Holunder beispielsweise bekommt man Durchfall, wenn man ihn roh isst. Gekocht ist er geniessbar. Oft ist es eine Frage der Dosis. Zitat Paracelsus: Die Menge macht das Gift. Einige hochgiftige Pflanzen wie beispielsweise der blaue Eisenhut oder die Tollkirsche werden ja in der Homöopathie verwendet, allerdings in ganz geringen Dosen. Die sind eben nicht für den «Hausgebrauch» geeignet.

Welche Pflanzen sollte man denn auf keinen Fall essen?
Eben beispielsweise den blauen Eisenhut oder die Tollkirsche, die Herbstzeitlose natürlich auch. In der Familie der Doldenblütler, zu denen auch die Schafgarbe gehört, hat es einige gefährliche Vertreter.  Die Schafgarbe allerdings kann man essen. Der gefleckte Schierling hingegen ist stark giftig, ähnelt aber stark dem Wiesenkerbel. Der Riesenbärenklau oder Riesenkerbel ist ebenfalls stark giftig, allerdings ist da die Verwechslungsgefahr zum Wiesenbärenklau eher klein. Tückisch, weil mit hoher Verwechslungsgefahr belegt, sind weiter die Hundspetersilie, welche aussieht wie der Wiesenkümmel. Sumpfschachtelhalm, besser bekannt unter dem Namen «Katzenschwanz», ist ebenfalls giftig. Der verwandte Ackerschachtelhalm wiederum ist eine Heilpflanze.

Woher wissen Sie das alles?
Von Büchern und von meiner Ausbildung, und wenn ich unsicher bin, recherchiere ich im Internet oder tausche mich mit Kolleginnen aus.

Wie sind Sie auf die Wildpflanzen gekommen?
Mit meiner Familie wohne ich ziemlich zentral in der Stadt Bern. Grad nebenan gibt’s eine Brache. Es begab sich, dass mein Mann eine ältere Frau aus Österreich zu Besuch hatte, die mal mit ihm die Brache inspizierte. Sie war begeistert, weil da eine «ganze Apotheke» wachse. Mein Mann erzählte mir davon, worauf ich mit Lehrbüchern über die Brache ging und ab da eigentlich nur noch mit Büchern in den Wald oder auf die Wiesen ging. Oder dann pflückte ich die interessanten Exemplare und bestimmte sie zu Hause. Und hier im Engadin konnte ich mein Wissen noch mehr ausweiten und vertiefen.

Und was fasziniert Sie dabei?
Mich fasziniert, dass wir praktisch alles um uns herum haben, das uns hilft, uns wohlzufühlen und durchaus auch uns zu heilen. Tatsächlich kann man Wildpflanzen in geeigneter Form als Begleitung für einen grossen Teil der Erkrankungen oder auch Verbrennungen einsetzen. Wenn man nicht gerade ins Spital muss, können Pflanzen sehr helfen.  Zudem hilft uns der Umgang mit Pflanzen, wieder den ganzen Zyklus der Jahreszeiten wahrzunehmen und zu spüren, dass auch wir ein Teil davon sind. Natur geschieht nicht da draussen, wir sind Natur.

Das heisst, Sie gehen nicht mehr zum Doktor?
Ich gehe tatsächlich nicht mehr so oft, da ich jetzt eine richtige Hausapotheke habe.

Können Sie denn auch Vergiftungen behandeln, die von der Einnahme giftiger Pflanzen herrühren?
Das kommt auf die Symptome an. Ist es nur Durchfall, wie bei der Einnahme von schwarzem Holunder ausgelöst, gibt es stopfende Pflanzen. Schlagen die Pflanzen aber aufs vegetative Nervensystem, was sich beispielsweise in Atemnot, Herzrasen oder Augen verdrehen äussert, muss man schleunigst in den Notfall.

Gibt es denn auch bewusstseinserweiternde Pflanzen?
Ja, zum Beispiel den Fliegenpilz, den Schlafmohn oder auch die Tollkirsche. Allerdings sind diese äussert heikel, und man sollte das nicht versuchen.

Haben Sie’s schon mal versucht?
Nein, ich bin eher der ängstliche Typ, aber ich kenne Leute, die schon Selbstversuche im geschützten Rahmen gemacht haben.

Die meisten Pflanzen kann man essen, das heisst, Sie gehen auch kaum mehr einkaufen, weil Sie sich von den gesammelten Pflanzen ernähren?
Ich verwende viele Wildkräuter in der Küche, aber ich verzichte nicht gänzlich auf gekauftes Gemüse und Salat. Vor allem wegen meinen Kindern. Mein Sohn, ein Landwirt, hat auch schon moniert, dass er schliesslich keine Kuh sei, wenn’s ihm dann zu viele Kräuter und Pflanzen waren.

Ist der Herbst eine gute Sammelzeit?
Ja, unbedingt. Wohl gibt es nicht mehr so viele Kräuter, dafür aber ganz viele Beeren. Die Vogelbeere, Berberitze, Sanddorn, Hagebutten oder auch Schlehen (Schwarzdorn).

Wächst da auch eine Superbeere?
Meine Superbeere ist die Vogelbeere. Es hat immer geheissen, die seien giftig, aber das stimmt so nicht ganz. Die Vogelbeere enthält viel Vitamin C. Ich trockne sie und kaue sie dann gegen Halsweh. Man kann sie sogar roh essen, entgegen allen Behauptungen (nicht mehr als 5 rohe Beeren pro Tag). Wohl enthalten die Kerne etwas Blausäure, doch man kann gar nicht so viele Vogelbeeren essen, bis einem die Blausäure schaden würde. Gerne mache ich auch Sirup aus Vogelbeeren oder Sablés. Aus den anderen Beeren mache ich vor allem Saft.

Haben Sie eine Lieblingssammelzeit?
Das kann ich so nicht sagen, denn jede Zeit ist speziell. Jetzt im Herbst ist es sehr schön mit all den Beeren, die reif sind. Das Verarbeiten der Beeren zu Saft ist noch richtiges Handwerk. Aber ich mag auch den Sommer, wenn die Pflanzen in voller Blüte sind. Im Frühling ist es jedes Mal wieder eine Freude, wenn das erste, zarte Grün spriesst. Sie sehen, jede Jahreszeit hat ihren Reiz.

Was machen Sie denn im Winter?
Da verarbeite ich meine gesammelten Schätze. Zudem arbeite ich mehr in meiner Praxis und gebe Kurse.

Welches ist für Sie die überraschendste Pflanze?
Ganz klar der Löwenzahn.

Weshalb?
Der wird extrem unterschätzt. Bei uns im Unterland gibt es Wiesen, die bestehen praktisch nur noch aus Löwenzahn. Lange habe ich mich gar nicht darum gekümmert. Erst mit der Zeit habe ich gemerkt, wie extrem vielfältig diese Pflanze ist. Sie ist problemlos einsetzbar als Gemüsepflanze, aber auch als Heilpflanze.

Er hilft beispielsweise gegen Migräne.
Ja, genau, da wäre wahrscheinlich die Wurzel am wirksamsten. Aber eine Tinktur aus den oberirdischen Pflanzenteilen hilft in Umwandlungsphasen, auch weil der Löwenzahn selber ganz verschiedene Erscheinungen annehmen kann. Erst die Rosette, dann die Blume mit einem Stiel und schlussendlich die Pusteblume.

Und wie würde das funktionieren?
Man macht einen alkoholischen Auszug aus der Pflanze, nimmt jeden Tag dreimal je drei Tropfen mit etwas Wasser und das Ganze drei Wochen lang. Dann macht man eine Pause und schaut, wo man steht. Das ist meine persönliche Herangehensweise, wenn ich eine Kur mache, um etwas intensiver zu begleiten.

Die meisten Heilpflanzen könnte man ja auch zu Hause anpflanzen, dann hätte man es nicht so weit, um sie zu sammeln, wieso macht das denn niemand?
Wildpflanzen wachsen eben wild und suchen sich ihren Platz, auch ihre Umgebung respektive die Gemeinschaft mit anderen Pflanzen. Deshalb kämen die einen im Garten wahrscheinlich gar nicht. Ich versuche seit Jahren Schafgarben im Garten zu kultivieren. Dort wachsen zwar immer Blätter, kommen aber nie zum Blühen.

Was ist an der hiesigen Gegend speziell?
Die riesige Vielfalt. Zudem hat die Flora hier etwas viel Intensiveres, durch die Umgebung und die Landschaft. Ich bin überzeugt, dass auch die zahlreichen Mineralquellen viel zur Vielfalt und Intensität beitragen.

Welches ist denn Ihre Lieblingspflanze?
Ganz klar die Schafgarbe.

Weshalb?
Wegen ihrer filigranen Gestalt mit der feinen Blüte, dazu hat sie aber einen extrem zähen und harten Stiel. Sie vereint vermeintliche Gegensätze und zeichnet sich dadurch aus.

Und was hilft, wenn ich lange wach bleiben will?
Wermuth. Muss ich konzentriert am Computer arbeiten, trinke ich einen Wermuth-Tee.

 

 

Carolina à Porta

Carolina à Porta arbeitet als Shiatsu-Therapeutin, leitet Jahreskreis-Feste und weitere Kurse. Nach und nach hat sie begonnen, sich für Wildpflanzen zu interessieren und hat entsprechende Ausbildungen absolviert. Nun bietet sie im Unterengadin Kräuterwanderungen und Workshops an (die aktuellen Daten finden sie unter www.praxis-aporta.ch oder im ALLEGRA).

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