Mehr Energie – mehr Extremereignisse

Andrea Millhäusler Der Klimawandel macht auch vor den Grenzen des Schweizerischen Nationalparks nicht Halt. Im Gegenteil: In den Alpen schreitet die Erwärmung rund doppelt so schnell voran wie im weltweiten Durchschnitt. Eine Folge davon sind die zunehmenden Extremereignisse. Deren Auswirkungen können wir im Parkgebiet besonders gut dokumentieren.

Eine Folge des Klimawandels

Die Alpen sind seit jeher faszinierend und gefährlich zugleich. Nirgendwo sonst zeigen sich die Naturkräfte wohl so deutlich wie in den Bergen. Über Jahrhunderte haben sie tiefe Schluchten geformt oder Schwemmkegel ins Tal getragen. In den letzten Jahrzehnten haben diese Kräfte deutlich an Energie gewonnen. Der Grund dafür ist die Erderwärmung. Die Zunahme der Starkniederschläge ist eine typische Folge der erhöhten Energie in der Atmosphäre. Denn wärmere Luftmassen können mehr Feuchtigkeit transportieren.

Extremniederschläge und Murgänge

Bei Starkniederschlägen fällt sehr viel Regen in kürzester Zeit. Der Boden kann das viele Wasser nicht mehr aufnehmen. Es fliesst oberflächlich ab und reisst dabei immer mehr Schlamm und Schutt mit sich. Ein Murgang entsteht – mit einer enormen Zerstörungskraft. Im Schweizerischen Nationalpark können natürliche Prozesse wie Murgänge, aber auch Steinschlag, Lawinen oder Hochwasser ihre Wirkung uneingeschränkt entfalten. Hier sprechen wir nicht von Schaden, sondern von Naturereignissen, die nicht zuletzt auch neue Lebensräume schaffen. Schäden entstehen da, wo Ereignisse auf menschlichen Nutzen treffen. Dass wir ausserhalb des Nationalparks vermehrt von Schäden im Zusammenhang mit Murgängen hören, hängt auch damit zusammen, dass sich der Mensch mit seinen Infrastrukturen immer mehr in die Nähe von Gefahrenzonen ausbreitet.

Ausgedehnte Schutthalden und Murgangrinnen prägen das Landschaftsbild in der Val Mingèr.
Ausgedehnte Schutthalden und Murgangrinnen prägen das Landschaftsbild in der Val Mingèr. © Hans Lozza, SNP

Energiegeladene Val Mingèr

Besonders augenfällig sind die Veränderungen, die Murgänge mit sich bringen, in der Val Mingèr. Typisch für dieses Gebiet in den sogenannten Engadiner Dolomiten sind die ausgedehnten Schutthalden unterhalb der schroffen Felswände. Dass sich dieser Schutt immer wieder bewegt, sticht bereits bei der Reise in Richtung Val Mingèr ins Auge.

Erstaunlich ist jedoch, dass die ausgedehnten Schutthalden in der Val S-charl und der Val Mingèr über viele Jahrzehnte sehr konstant blieben. Davon zeugen Luftbilder seit 1946. Dokumentiert sind zwar die zahlreichen Lawinenereignisse im Gebiet, die sich in der Waldstruktur und auch in den Flurnamen widerspiegeln (z.B. Laviner Grond). Grössere Murgänge jedoch haben sich zwischen 1946 und 2015 keine zugetragen. Dies änderte sich im Sommer 2015 schlagartig. Am 22. Juli 2015 entlud sich ein heftiges Gewitter im Gebiet des Piz Pisoc und der Val Mingèr. Ein gewaltiger Murgang wälzte sich vom Laviner Grond ins Tal hinunter, verschüttete den Wanderweg und transportierte mehrere tausend Kubikmeter Schutt in den Bach im Talboden. Dieses Grossereignis hat neue Dynamik ins Gebiet gebracht. Die Folge davon sind die seit 2015 immer wiederkehrenden Murgangereignisse. Sie betreffen auch die Strasse zwischen Scuol und S-charl, die mehrere Mur-Rinnen quert. Fast jedes Gewitter löst hier neue Murgänge aus. So müssen die Verantwortlichen die Strasse nach S-charl bei intensiven Regenfällen regelmässig schliessen. Ein Frühwarnsystem sorgt hier seit 2021 für mehr Sicherheit.

© Abbildung: GIS SNP/SWISSTOPO

Auf den beiden Luftbildern im Gebiet des Laviner Grond in der Val Mingèr ist die Veränderung nach dem Murgang von 2015 deutlich sichtbar. Oben: Luftbild 2013, Unten: 2018, rot eingezeichnet ist der Wanderweg.

© Abbildung: GIS SNP/SWISSTOPO

Neuer Wanderweg in der Val da Stabelchod

Nur wer genau hinschaut, erkennt sie: Die Rinnen, die sich von der Val da Stabelchod her durch die Wiese der Alp Stabelchod schlängeln. Heute mit Gras bewachsen sind sie Zeugen der Murgänge, die vor Jahrhunderten den sanft abfallenden Hang der Alp geformt haben. Seit der Parkgründung 1914 jedoch hat kein grösserer Murgang das Gebiet erreicht. Bis zum 23. August 2018. Nach einem warmen Sommertag brachten kurze aber heftige Niederschläge das Geröll in der Val da Stabelchod in Bewegung. Der Murgang riss Brücken und Teile des Wanderwegs mit sich und überraschte Wandergäste. Verletzt wurde glücklicherweise niemand. In der Folge legten die Parkverantwortlichen den Wegabschnitt in diesem Gebiet neu an. Denn nebst dem Schutz der natürlichen Prozesse soll der Park auch für Gäste zugänglich sein. Der neue Wegabschnitt führt nun über eine Schulter anstatt durch den Talgrund. Im Talgrund selbst sind neue, unberührte und dynamische Lebensräume entstanden …

Der Murgang vom 23. August 2018 in der Val da Stabelchod hat so viel Material im Fuorn-Bach abgelagert, dass dort kurzzeitig ein See entstanden ist. Mittlerweile ist dieser wieder verlandet.
Der Murgang vom 23. August 2018 in der Val da Stabelchod hat so viel Material im Fuorn-Bach abgelagert, dass dort kurzzeitig ein See entstanden ist. Mittlerweile ist dieser wieder verlandet. © Hans Lozza, SNP

Den ausführlichen Artikel zum Thema Extremereignisse, verfasst von Markus Stoffel, finden Sie in der aktuellen Ausgabe der Nationalpark-Zeitschrift CRATSCHLA.

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