Weil die Region Engiadina Bassa/Val Müstair für ihre vielfältige Landschaft bekannt ist, die eine grosse Anzahl an Lebensräumen für Tiere und Pflanzen bietet, trifft man auf viele Forschende, die hier den Zusammenhang zwischen Biodiversität, Landschaft und den anthropogenen Nutzungen oder natürlichen Einwirkungen untersuchen. Manche machen das durch genaues Hinsehen, wie z. B. Botaniker*innen oder Wildbienenexpert*innen. Andere widmen sich grösseren Skalen wie z. B. der Landschaft. Sie untersuchen Landschaftsveränderungen anhand von neuen Fotos, die mit älteren verglichen werden, oder kartieren die noch sichtbaren Landschaftsstrukturen im Gelände, was nicht immer einfach ist und einer speziellen Fähigkeit des Erkennens manchmal fast verschwundener Spuren bedarf. Alle, die sich mit Landschaft im weiteren Sinne auseinandersetzen, nutzen neben den Methoden der Naturwissenschaften auch diejenigen der Sozialwissenschaften. Daher trifft man häufig auf Personen, die für ein Interview anfragen, oder auf QR-Codes, welche zu einer Umfrage anregen sollen. Im Folgenden möchten wir auf ein paar aktuelle Forschungsprojekte kurz eingehen, die auf das Mitwirken von Bevölkerung und Gästen angewiesen sind.
Naturwissenschaftliche Forschung nutzt Meldungen aus der Bevölkerung
Im Verborgenen lebende Tiere stehen im Moment im Rahmen von zwei Forschungsprojekten in der Region Engiadina Bassa/Val Müstair im Vordergrund. Eines ist das bereits in einer früheren Ausgabe des Allegra vorgestellte Projekt zum Baumschläfer und seiner Verwandten. Die Kleinsäuger-Expertinnen haben vor allem durch Fotofallen und Nestboxen sowie durch Hinweise aus der Bevölkerung einige weitere Standorte des seltenen Baumschläfers gefunden. Vorkommen von den anderen zu den Bilchen zählenden Vertretern wie der Gartenschläfer, Siebenschläfer und die Haselmaus wurden ebenfalls gemeldet und können weiterhin über die Plattform Wilde Nachbarn Engiadina Val Müstair angegeben werden. Auf dieser wurden seit 2019 bereits 530 Meldungen von Wildtieren verzeichnet, 178 davon betreffen alleine die Bilche.
Das zweite Projekt legt den Fokus auf ein Insekt. Genauer ist dies eine kleine Wildbiene, die Stängel-Blattschneiderbiene (Megachile genalis). Sie ist eine in der Schweiz vom Aussterben bedrohte Wildbiene, die vor allem am Riesen-Haarstrang (Peucedanum verticillare) ihre Nester anlegt. Daher suchen wir seit diesem Jahr nach dem Riesen-Haarstrang, ein Doldenblütler, der stattliche Höhen von zwei Metern erreichen kann. Diese Pflanze hat einen hohlen Stängel, der mehr oder weniger glatt und rot gefärbt ist. Eventuell könnte diese Pflanze mit einem invasiven Neophyten, dem Riesen-Bärenklau (Heracleum mantegazzianum) verwechselt werden. Daher sollte vor einer Bekämpfung immer genau geschaut werden, ob es wirklich der invasive Neophyt ist, denn die Wildbiene ist auf das Vorhandensein des Riesen-Haarstrangs als Neststandort angewiesen und kann ohne diesen nicht überleben. Bei diesem Forschungs- und Förderprojekt besteht eine Zusammenarbeit mit dem Parc Ela, der einen entsprechenden Aktionsplan in Auftrag gegeben hat. Dabei wurden Flächen im Unterengadin mitberücksichtigt. Wir suchen jetzt Beobachtungen des Riesen-Haarstrangs mit und ohne Nester der Stängel-Blattschneiderbiene. Je besser man sie kennt, desto höher ist die Überlebenschance dieser kleinen Wildbiene.
Forschung im Bereich der Sozialwissenschaften
In einer Umfrage der Region EBVM zeigte sich, dass die Landschaft für viele Menschen einen hohen Stellenwert besitzt. Momentan läuft ein Pilotprojekt zur Landschaft, welches durch die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), den Schweizerischen Nationalpark (SNP), die UNESCO Biosfera Engiadina Val Müstair, den regionalen Naturpark Biosfera Val Müstair, die Stiftung Pro Terra Engiadina und die Forschungskommission des Schweizerischen Nationalparks der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) umgesetzt wird.
Mitarbeitende dieser Organisationen befragen die Bevölkerung und Gäste direkt draussen bei der Wanderung nach ihrer Einschätzung zur Landschaft. Angewendet wird dazu die neu dafür entwickelte Methode des Public Participatory GIS. Dabei können die Befragten geografisch verortete Bewertungen abgeben und Orte identifizieren, die sie besonders positiv (Lieblingsorte) oder negativ wahrnehmen. Die Beteiligung der Bevölkerung und Gäste liefert wertvolle Daten, die von Forschenden anschliessend ausgewertet werden.
Wir danken allen Einheimischen und Gästen, die an Befragungen und Citizen-Science-Projekten teilnehmen und dazu beitragen, mehr Wissen über Natur, Kultur und Landschaft zu schaffen, welches wiederum als Grundlage für Aufwertungsprojekte dient.