«Man muss zur libraria poesia clozza»

Jürg Wirth Begonnen hat Simone Nuber bei Buchverlagen, dann war sie Direktorin des Amtes für Statistik der Stadt Zürich. Nun schliesst sich der Kreis, und sie betreibt neu die libraria poesia clozza in Scuol. Dem ALLEGRA verrät sie unter anderem, weshalb sie Bücher und Zahlen gleichermassen faszinieren und wie sie die Buchhandlung erfolgreich betreiben will.

Was haben Statistiken und Bücher gemeinsam?

Bei beiden geht es um Geschichten. Hinter jeder Zahl steht eine Geschichte, genauso wie hinter jeder Buchstabenkombination eine steht. Jetzt kann ich mein ganzes Herzblut in die Geschichten hinter Wörtern stecken. Vorher habe ich als Statistikerin die Geschichten hinter den Zahlen der Stadt Zürich verantwortet.

Selbstverständlich spielen in meiner Buchhandlung auch romanische Bücher eine wichtige Rolle. Ich werde eine grosse Abteilung mit romanischer Literatur, vor allem in Vallader einrichten. Selbst versuche ich mich bereits seit anderthalb Jahren mit dieser Sprache. Allerdings ist das eine Herausforderung, denn wenn ich etwas auf Romanisch sagen will und mir die Wörter fehlen, dann fallen alle sofort ins Deutsche. Nun nehme ich Privatstunden und hoffe, dass das Parlieren mit der Zeit flüssiger wird.

Zahlen sind nicht einfach nur trockene Materie?

Überhaupt nicht. Mit Zahlen und Statistiken kann man sogar Theater machen. So geschehen mit «100 % Zürich - eine statistische Kettenreaktion» von Rimini Protokoll. Dort haben wir Statistik aus dem Leben live auf die Bühne gebracht. Dazu wurden 100 Personen in Kettenreaktion ausgewählt, die die Stadt statistisch repräsentativ widerspiegeln. Mit diesen haben wir beispielsweise Abstimmungen durchgeführt und diese dann quasi real time statistisch abgebildet.

Die Vorliebe fürs Lesen und die für Mathematik bringt man aber eher nicht zusammen?

Ich schon, denn ich war schon immer eine Leseratte. Aber auch von Zahlen war ich fasziniert. Die Kombination von beidem ist für mich ein «perfect match».

Mit meiner neuen Tätigkeit als Buchhändlerin schliesst sich nun ein Kreis. Denn mein Arbeitsleben habe ich bei zwei Verlagen begonnen und dort Bücher produziert. Nun versuche ich auf der anderen Seite der Skala, diese einer Leserschaft mit Begeisterung zu verkaufen.

Was ist die Faszination an der neuen Aufgabe?

Das ist in erster Linie der Kontakt mit der Kundschaft, aber auch mit Autoren, Autorinnen und den Verlegern. Tatsächlich habe ich noch langjährige Kontakte in der Branche, die ich mir früher aufgebaut habe. Allerdings gab es auch hier einen rechten Strukturwandel: Sauerländer und Benziger, bei denen ich früher gearbeitet habe, existieren nicht mehr, dafür gibt es eine Vielzahl neuer, innovativer Verlage.

Lesen Sie als Statistikerin Bücher anders, also werten Sie beispielsweise Satzanfänge aus oder welcher Buchstaben wie häufig vorkommt?

Nein, eigentlich nicht, dafür müsste ich das Buch elektronisch verfügbar haben, um es auswerten zu können. Aber ich habe tatsächlich den Hang dazu, mir beim Lesen über die Gestaltung des Buches, den Satzspiegel und das Layout Gedanken zu machen, auch über die Wortwahl oder die Häufigkeit einzelner Wörter. Aber garantiert ohne statistische Auswertung.

Wieso soll man Bücher lesen und nicht einfach Hörbücher hören?

Liest man ein Buch, kann man selbst Tempo und Rhythmus bestimmen. Ich stelle mir die Protagonisten anders vor, als wenn ich die Geschichte höre. Ein weiteres Handicap besteht darin, dass ich bei einer tiefen, sonoren Stimme rasch einschlafe.

Meiner Mutter, die eine Sehschwäche hat, lese ich hingegen gerne vor oder schenke ihr Hörbücher.

Dann hören Sie die Hörbücher nicht während des Autofahrens?

Nein, dann höre ich immer SRF4. Hörbücher geniesse ich auf langen Zugfahrten oder zu Hause. Aber selbstverständlich werde ich in meiner Buchhandlung auch eine kleinere Abteilung mit Hörbüchern einrichten.

Seit Jahren wird das Buch totgesagt, wann stirbt es endlich?

Nie, oder es erlebt eine immerwährende Wiedergeburt! Ein Buch hat etwas extrem Sinnliches und Haptisches.

(Sie holt das Buch «Unterwegs in Viadi» von Luisa Famos aus dem Gestell). Ich mag es, ein Buch in die Hand zu nehmen, schätze einen schönen Einband, das Buchzeichen aus Leinen, das Geräusch beim Blättern, den Geruch des Papiers. Aber auch ein gut gestalteter Satzspiegel und eine schöne Schrift können mich glücklich machen.

Ich habe ein Flair für Typographie, deshalb habe ich mir für meinen Auftritt extra eine Schrift gekauft. GT Alpina heisst sie. Passt doch auch vom Namen her zu einer Buchhandlung im alpinen Raum.

Dann lesen Sie keine E-Books?

Nein, eigentlich nicht. Ich habe mir mal eines gekauft, weil ich gut und gerne Französisch lese und mir vorgestellt habe, dass ich die Wörter, die ich nicht auf Anhieb verstehe, direkt in einem Übersetzungsprogramm nachschlagen kann. Dieses Unterfangen habe ich gleich wieder aufgegeben, denn das war ganz schlecht für den Lesefluss.

Sie glauben also an die Zukunft der Bücher und der Buchhandlungen?

Ja, unbedingt. Gerade Corona hat gezeigt, wie sich viele Leute aufs Buch und aufs Lesen eines Buches zurückbesonnen haben. Sie haben sich wieder Zeit zum Lesen genommen respektive hatten die Zeit und haben dann gelesen.

Die Absatzzahlen im Schweizer Buchhandel haben gezeigt, dass keine Krise in Sicht ist – vorausgesetzt, die Buchhandlungen hatten auch einen Webshop.

Denn mit Corona stellte sich heraus, dass man vermehrt auf die Kundschaft zugehen muss, da das in den Buchladen kommen zeitweise nicht mehr ging.

Und das haben Sie schon gemacht?

Ja, das war für mich ein erster Meilenstein. Cristiana Fliri, meine Vorgängerin, hat im März aufgehört, und ich habe bereits ab dem 1. April einen Internetauftritt mit Webshop aufgeschaltet, damit während der Renovationszeit trotzdem Bücher bestellt werden konnten. Mit den verschiedenen Rubriken auf meiner Webseite wollte ich die Leute zusätzlich «gluschtig» machen. Neben News, Buchtipps, Events, Porträts, beispielsweise auch mit dem Blog «Aus der Küche». Das kommt daher, da ich selber versessen aufs Essen bin. Ich liebe es, beim Essen und Trinken über Bücher oder «Göttin» und die Welt zu diskutieren.

Wieso braucht das Unterengadin eine Buchhandlung?

Weil es nicht nur eine reine Buchhandlung werden soll, sondern auch ein Ort der Begegnung. Die Leute sollen zum Schmökern kommen, um sich zu treffen und miteinander zu reden, dann gibt es noch Clozza-Wasser dazu, denn die Quelle liegt gleich oberhalb der Buchhandlung.

Weiter plane ich Veranstaltungen wie eine literarische Tavolata, Ausstellungen oder beispielsweise auch Kurse im Buchbinden.

Und wer soll die Bücher kaufen?

Auch dazu habe ich mir Überlegungen gemacht, die in einen rund 50-seitigen Businessplan einflossen. Die Kundschaft unterteile ich grundsätzlich in drei Gruppen: Die Ansässigen, die Zweitheimischen und die Gäste.

Generell will ich mir aber Zeit geben, einen eigenen Kundenstamm aufzubauen. Und dieser soll so vielfältig und bunt sein wie eine Blumenwiese in Sent.

Und die Ansässigen werden am meisten kaufen?

Ich gehe schon von einer Gruppe aus, die am meisten kaufen wird …

Was mich optimistisch stimmt für mein zukünftiges Geschäft, ist die hohe Dichte an Autorinnen und Autoren in dieser Region. Als Statistikerin müsste ich das eigentlich mal untersuchen und mit anderen Regionen der Schweiz vergleichen.

Zudem ist meine Buchhandlung auch ein Kulturbeitrag und quasi die Verlängerung des Straduns. Da kommt mir natürlich entgegen, dass die Bar BRAUART im Moment der Hotspot von Scuol ist und so noch mehr Leute an meinem Laden vorbeikommen. Der Bikeshop und Cofox sind ebenfalls auf der anderen Seite der Clozza und generieren Laufkundschaft.

Ich bin bereits auf einer Tournee durchs Tal und mache Halt bei Bibliotheken, Hotels oder Kliniken und dem Spital, um sie als zukünftige Kunden zu gewinnen.

Wie stellen Sie Ihr Sortiment zusammen?

(Zeigt auf eine etwa sechs Meter lange Reihe von Buchkatalogen am Boden.) Ich erhalte zweimal jährlich alle Kataloge deutschsprachiger Verlage, die ich «durchscanne» und dann eine Favoritenliste erstelle. Von den Gebieten her wird es in meinem Laden Belletristik, Bilder-/Kinderbücher, Kochbücher, Sachbücher, aber auch solche aus der Naturwissenschaft, sprich über Flora und Fauna sowie Bestimmungsbücher und Ratgeber geben und selbstverständlich auch ein umfassendes Angebot in Vallader.

Aber Sie wählen primär Bücher aus, die Ihnen selber gefallen?

Ja, das finde ich wichtig. Schliesslich will ich hinter meinem Angebot stehen, die Bücher kennen und etwas darüber erzählen können. Selbstverständlich bin ich aber auch sehr offen für Kundenwünsche. Allerdings ist mein Laden nicht sehr gross, ich werde mich platzmässig einschränken müssen.

Die Auswahl für die Eröffnung steht?

Ja, die habe ich zu 98 % beisammen. Interessant für die Bücherauswahl sind auch Vertreterbesuche, denn diese können zusätzlich aufschlussreiche und zum Teil amüsante Hintergrundinformationen liefern.

Wie findet man Bücher, die zu einem passen?

Indem man entweder grundsätzlich neugierig ist oder zu seinen eigenen Vorlieben steht, ich beides einzuschätzen weiss und somit gut beraten kann. Deshalb biete ich auch ein Bücherabonnement an: Auf einem Erhebungsfragebogen kann man alle Präferenzen wie auch «No-go's» vermerken. Ich wähle dann die Titel individuell auf die Person bezogen aus. Und bin gespannt auf die Rückmeldungen.

Wie wichtig ist das Cover eines Buches?

Für mich extrem wichtig, gerade neulich habe ich eine Biografie von Winston Churchills Frau gesehen, doch das hatte ein derart biederes Titelbild, dass ich das Buch allein schon deshalb nicht (mit Genuss) lesen kann. Dazu könnten Ihnen Verleger und Grafikerinnen ganze Bände über die Entstehungsgeschichte und Wahl eines Covers erzählen - und Absatzzahlen dazu liefern.

Soll man Bücher, die einem nicht gefallen, trotzdem zu Ende lesen?

Auf keinen Fall, jedes Jahr erscheinen 1,793 Millionen neue Bücher, da ist es einfach schade, wenn man sich mit einem abmüht, das nicht gefällt.

Welches ist Ihr all-time-favourite-Buch?

Die Bücher von Friedrich Dürrenmatt sind für mich ein Dauerbrenner. Ich nehme sie immer wieder zur Hand.

Und bei der aktuelleren Literatur?

Grundsätzlich alle aus meiner Rubrik Buchtipp auf der Website. Momentan schmökere ich gerade in «Vier Fliegen mit einer Klappe», ein Buch, das Redewendungen in allen vier Schweizer Sprachen miteinander vergleicht. Und übrigens alle fünf rätoromanischen Idiome berücksichtigt. Unbedingt «2610 m ü. M. Irma Clavadetscher. Ein Leben auf der Coaz-Hütte» von Irene Wirthlin und dann natürlich «Keine Ostergrüsse mehr» aus der Edition Patrick Frey, das innerhalb von sechs Monaten schon in der 3. Auflage vorliegt. Weitere verrate ich Ihnen bei einem Besuch im Laden.

Wieso denken Sie, dass Ihre Buchhandlung Erfolg haben wird?

Weil ich mit Herzblut dabei bin. Zudem habe ich ein breites Angebot mit verschiedenen Veranstaltungen. Ich werde alles dafür geben, dass ich einen treuen Kundenstamm aufbauen und mein Netzwerk ausweiten kann. Die libraria poesia clozza soll zur Institution in Scuol werden, es soll heissen: «In Scuol muss man zur poesia clozza» gehen, denn dort findet man auch etwas, von dem man gar nicht wusste, dass man es gesucht hat.

Simone Nuber verrät, weshalb man unbedingt in die neue libraria poesia clozza gehen soll.
Simone Nuber verrät, weshalb man unbedingt in die neue libraria poesia clozza gehen soll. © Mayk Wendt

Am 3. Juli 2021 eröffnet Simone Nuber die libraria poesia clozza in den renovierten Räumlichkeiten des ehemaligen Chantunet da Cudeschs.

Ursprünglich hat Simone Nuber in Verlagen gearbeitet. Dann studierte sie Geografie und Mathematik und war Direktorin des Amtes für Statistik der Stadt Zürich. Seit drei Jahren lebt sie nun in Scuol und besitzt in Gockhausen noch eine Zweitwohnung.

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