Sent Plaz
Sent Plaz © Andrea Badrutt, Chur

Sent – das Dorf der Schwalben

Jürg Wirth

Sent, auf der Sonnenterrasse ob Scuol gelegen, gilt als Schwalbendorf, und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen bevölkern viele Schwalben den Himmel und auch die Gassen über und in Sent. Zum anderen prägten die «Randulins», wie die Schwalben auf Romanisch heissen, das Dorfbild und auch den Friedhof.

So sind die klassizistischen Palazzi, welche das Dorfbild entscheidend mitprägen, von Emigranten gebaut worden. Eben jenen Randulins, welche ihr Glück im Ausland, oft in Italien, suchten und auch fanden. Glück steht primär für Geld, welches sie dort verdienten und mit welchem sie sich zu Hause in Sent ihren Ruhesitz errichteten. Die endgültige Ruhe fanden sie dann auf dem Friedhof, der dank der imposanten, teilweise sogar monumentalen Grabstätten der Randulins durchaus sehenswert ist.

Bis weit ins 18. Jahrhundert war Venedig der Hauptauswanderungsort der Bündner im Allgemeinen und der Senter im Speziellen. Dort war man froh um Zuwachs, weil die Pest, welche 1630 ausbrach, einen Drittel der Bevölkerung dahinraffte. So waren 1704 von 104 Zuckerbäckerläden 95 in Händen von Bündnern, 43 betrieben sie selbst, 52 weitere hatten sie vermietet. Von den ca. 100 Branntweinverkäufern im Jahre 1733 waren 75 Bündner.

1762 verhinderte die Salis-Partei unter Führung von Ulysses von Salis-Marschlins eine Erneuerung der alten Freundschaft mit Venetien, ohne Rücksicht auf die ökonomischen Interessen der Tausenden von Landsleuten zu nehmen, die sich in der Lagunenrepublik niedergelassen hatten. So kam es zum Bruch. 1766 vertrieb die damals blühende Adriastadt die Bündner Gewerbetreibenden, darunter auch viele Senter Bürger. Von der Stadt Venedig allein wurden 145 Branntweinverkäufer und Cafétiers, 203 Zuckerbäcker, 214 Schuster, 35 Messerfabrikanten und 18 Milchverkäufer samt Arbeitern und Lehrlingen vertrieben. Diese wandten sich den naheliegenden Zentren Triest, Fiume, Laibach (Ljubljana) und Ragusa (Dubrovnik) zu, die Senter hauptsächlich Richtung Toscana, wo sie eigene Kaffeehäuser, Zuckerbäckereien und Lebensmittelgeschäfte gründeten.

Um 1800 entstanden in Florenz, aber auch in Livorno, Pisa, Siena, La Spezia, Ancona, Perugia und verschiedenen anderen Städten Mittelitaliens regelrechte Senter Kolonien mit immer neuem Zuzug aus der Heimat.

Ende des 18. Jahrhunderts waren 190 erwachsene Personen aus Sent in der Fremde, das war immerhin etwa ein Fünftel der ganzen Senter Bevölkerung. Etliche der Emigrierten kamen hier zu Vermögen und Ansehen, viele andere wurden krank und fanden dort einen frühen Tod. Die Verbindung zur Heimat wurde aber nie abgebrochen.

Heute sind die meisten Geschäfte in den Händen von Italienern. Eine der wenigen Konditoreien, die von Bündnern gegründet wurden und heute immer noch in Bündner Händen ist, ist die Pasticceria Sandri in Perugia. Die Schweizer Herkunft der Gründer kommt durch das Kaffeegeschirr mit dem Schweizerkreuz zum Tragen.

Der 2008 gegründete Verein Società Randulins Sent nimmt die Interessen der Randulins wahr.

Nicht wenige der Senter Randulins sind auch auf dem Friedhof Sent begraben. In durchaus stattlichen Grabstätten.
Nicht wenige der Senter Randulins sind auch auf dem Friedhof Sent begraben. In durchaus stattlichen Grabstätten. © Jürg Wirth

Das könnte Sie auch interessieren