Ein grosser Teil unserer Arbeit ist Beratung

Jürg Wirth Noch immer wird der Sozialdienst mit Sozialhilfe, also dem Verteilen von Geld, gleichgesetzt. Dabei sind die Aufgaben ungleich vielfältiger, wie Claudia Staffelbach, Teamleiterin des Regionalen Sozialdienstes Unterengadin/Val Müstair im Interview erklärt.

Wenn ich kein Geld mehr habe, kann ich mich beim regionalen Sozialdienst melden und der gibt mir wieder welches?

Der regionale Sozialdienst ist sicher eine gute Anlaufstelle in einer solchen Situation. Bevor Geld gesprochen wird, klären wir die jeweilige Lebenssituation ab. Zusammen mit der hilfesuchenden Person versuchen wir dann, Lösungen zu finden. Eine davon kann sein, dass wir für die Person ein Gesuch auf Sozialhilfe bei der zuständigen Gemeinde stellen. In Notsituationen können wir aber auch sofort helfen, zum Beispiel mit Lebensmittelgutscheinen. Oder es kann sein, dass wir mit einer einmaligen Zahlung einer Stiftung bereits eine Lösung finden. Dann kommt die Sozialhilfe nicht zum Zug.

 

Oder können Sie in drei Sätzen erklären, was der Sozialdienst macht?

Ein grosser Teil unserer Arbeit ist die Beratung, die wir allen Einwohner*innen der Regionen Unterengadin, Münstertal und Samnaun kostenlos anbieten. Beratungsthemen können beispielsweise sein: Arbeit, Miete, Trennung, Fragen zu Sozialversicherungen oder die persönliche Situation. Wenn es gewünscht ist, unterstützen wir Personen bei der Einhaltung ihres Budgets oder beraten sie für die Rückzahlung ihrer Schulden. In gewissen Situationen schreiben wir Gesuche an Stiftungen, damit eine akute finanzielle Krise bei Ratsuchenden abgefedert werden kann. Wir helfen auch dabei, andere passende Fachstellen zu finden. Zudem bieten wir Beratungen für Suchtbetroffene und/oder deren Angehörige an. Die Sozialhilfe, also die finanzielle Unterstützung einer Person durch die Gemeinde, ist somit nur ein Aspekt unserer Arbeit.

 

Wann sollte man den Sozialdienst aufsuchen?

Wir können Menschen helfen, wenn sie sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden und keinen Weg sehen, wie es weitergeht oder wenn es mit Sozialversicherungen kompliziert ist (z. B. Prämienverbilligung, Arbeitslosenkasse, Regionale Arbeitsvermittlung oder Invalidenversicherung). Der Sozialdienst ist die erste Anlaufstelle in der Region. Wenn wir nicht zuständig sind, vermitteln wir an andere Beratungsstellen, z. B. Pro Senecute oder Pro Infirmis.

 

Wie viel Überwindung braucht das bei den Leuten? Wie schätzen Sie das ein?

Häufig braucht es Überwindung, uns zu kontaktieren. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass viele Menschen froh sind, wenn sie den Schritt gemacht haben. Wir können nicht alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, aber oft finden wir zusammen einen Weg, wie die Leute damit umgehen können. Das kann bereits eine grosse Hilfe sein.

 

Früher war der Sozialdienst respektive die Sozialhilfe stark stigmatisiert, wie sieht das heute aus?

Ein Bezug von Sozialhilfe ist nach wie vor ein Tabuthema. Wir versuchen aber, den Betroffenen aufzuzeigen, dass es keine Schande ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wer Hilfe benötigt, kann sich an uns wenden. Wir klären mit den Betroffenen den Anspruch und die Bedingungen. Heute beruht die Unterstützung auf gesetzlichen Grundlagen. Personen in einer finanziellen Notlage haben das Recht, öffentliche Unterstützung zu erhalten.

 

Sozialhilfe respektive finanzielle Unterstützung ist vor allem als Übergangslösung gedacht, wie sieht das in der Praxis aus?

Manchmal braucht es die Sozialhilfe, damit sich die Situation der betroffenen Personen stabilisieren kann. Meistens ist es eine kurze Phase. In der Schweiz konnten 2021 fast 50 Prozent der Dossiers mit einer Bezugsdauer von weniger als einem Jahr abgeschlossen werden. Gemeinsam mit den Betroffenen suchen wir Wege, wie sie wieder selbstbestimmt und unabhängig leben können. 

 

Wie rasch kann es gehen, dass man aus einer «stabilen» Situation in eine instabile gerät, und was sind häufige Gründe dafür?

Die Menschen sind manchmal überrascht, wie schnell es gehen kann. Krankheit ist ein solches Risiko. Wir haben die Vorstellung, durch Krankentaggeld und durch die IV abgesichert zu sein. Wie lange eine Taggeldversicherung zahlt oder wie hoch eine IV-Rente ist, darüber machen wir uns weniger Gedanken. Ein weiteres Armutsrisiko sind Kinder. Kommt es zu einer Trennung, wird das Geld schnell knapp und manchmal reicht es nicht mehr, um die Existenz zu sichern.

 

Und wie kommt man da wieder raus?

Für die meisten Menschen ist die Sozialhilfe eine Überbrückungshilfe. Sie finden früher oder später wieder Möglichkeiten, selbstständig ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie finden zum Beispiel eine Arbeit oder erhalten eine Rente. Wir begleiten und unterstützen die Menschen während der Zeit des Sozialhilfebezugs und sind Ansprechpersonen für sie wie auch für die Gemeinde.

 

Hat die Arbeit des Sozialdienstes in den letzten Jahren zugenommen, und wenn ja, weshalb?

Die Anzahl der Beratungen in unserer Region blieb in den letzten Jahren auf ähnlichem Niveau. Zusätzliche Aufgaben haben die regionalen Sozialdienste des Kantons im letzten Jahr mit der Unterstützung von schutzsuchenden Menschen aus der Ukraine übernommen. Das Unterengadin war davon allerdings nicht so stark betroffen.
Die Sozialhilfequote ist im Kanton Graubünden seit Jahren stabil und mit 1,3 % eine der tiefsten in der ganzen Schweiz. Im Engadin liegt sie nochmals tiefer. Ein Grund für die tiefe Sozialhilfequote ist die gute Arbeitsmarktsituation. Vermutlich beanspruchen aber auch nicht alle Personen, die Anspruch auf Unterstützung hätten, Sozialhilfe.

 

Das Unterengadin ist sehr kleinräumig. Wie schwierig ist es da, die Schweigepflicht respektive die Anonymität ein- oder aufrechtzuerhalten?

Wir sind eine kantonale Stelle und von Gesetzes wegen zur Verschwiegenheit verpflichtet. Informationen werden von uns vertraulich behandelt. Wenn wir von Drittpersonen Aussagen hören wie: «Das ist sicher einer, den du kennst» oder «das bezahlen sicher wir», äussern wir uns nicht. Die Geheimhaltung und den Datenschutz halten wir hoch, sie sind zentral für unsere Arbeit. 

 

Wie ist die Zusammenarbeit mit den Gemeinden, und gibt es da Musterschüler oder Hotspots?

Mit den Gemeinden arbeiten wir hauptsächlich bezüglich Sozialhilfe zusammen. Für uns ist es sehr wichtig, dass wir ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Gemeinden haben. Wir beschreiben ihnen die Situation der Menschen in den Gesuchen und nehmen aus sozialarbeiterischer Sicht Stellung dazu. Die Zusammenarbeit mit allen fünf Gemeinden funktioniert sehr gut.

 

Aus den Städten hört man immer öfter, dass die Mitarbeitenden des Sozialdienstes bedroht werden. Wie ist das im Unterengadin?

Auch wir waren schon Situationen ausgesetzt, wo wir uns nicht mehr sicher fühlten. Das passiert aber sehr selten. Wir besprechen diese Situationen und mögliche Gefahren innerhalb des Teams und treffen Sicherheitsmassnahmen (z. B. Gespräche zu zweit). Wir befinden uns zudem im Austausch mit den anderen regionalen Sozialdiensten im Kanton Graubünden und werden durch die Gesamtleitung der Sozialdienste unterstützt. Es ist für uns sehr wichtig, auch auf seltene Gefahrensituationen vorbereitet zu sein. 

 

Wie ist die Arbeit für Sie; was sind Höhepunkte, was Tiefpunkte?

Die Arbeit beim Sozialdienst ist sehr vielseitig und abwechslungsreich. Höhepunkte sind, wenn das Problem der Person gelöst ist und sie wieder selbstständig ihre Aufgaben und ihren Alltag bewältigen kann. Tiefpunkte kennen wir nicht wirklich. Manchmal brauchen wir aber einen langen Atem, bis wir zu Lösungen kommen.

 

Was wünschen Sie sich für den Sozialdienst in Zukunft und was für die Klient*innen?

Der Regionale Sozialdienst soll in der Bevölkerung als vertrauensvolle Beratungsstelle bekannt sein. Wir wünschen uns, dass Personen in einer schwierigen Lebenssituation oder mit Problemen den Mut finden, sich bei uns zu melden. Für unsere Klient*innen wünschen wir, dass wir gemeinsam passende Lösungen finden. 

Claudia Staffelbach ist Teamleiterin des Regionalen Sozialdienstes Unterengadin/ Val Müstair. Weiter arbeiten im Regionalen Sozialdienst: Niccolò Nussio in der Sozial- und Suchtberatung, Seraina Caviezel in der Sozialberatung und Giovanna Tönett in der Buchhaltung und auf dem Sekretariat. 

Claudia Staffelbach leitet das Team der Regionalen Sozialdienste Unterengadin/Val Müstair.
Claudia Staffelbach leitet das Team der Regionalen Sozialdienste Unterengadin/Val Müstair. © Urs Padrun

Claudia Staffelbach ist Teamleiterin des Regionalen Sozialdienstes Unterengadin/ Val Müstair. Weiter arbeiten im Regionalen Sozialdienst: Niccolò Nussio in der Sozial- und Suchtberatung, Seraina Caviezel in der Sozialberatung und Giovanna Tönett in der Buchhaltung und auf dem Sekretariat. 

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