Gräben zuschütten und sich näherkommen

Annelise Albertin Den Wolf nicht als Problem, sondern als Teil unseres Ökosystems zu sehen, dafür plädiert Heinrich Haller in seinem neusten Buch «Der Wolf. Ein Grenzgänger zwischen Natur und Kultur». Jahrelang hat er Wölfe beobachtet, ihr Verhalten studiert und nun über die wohl umstrittenste Tierart der Schweiz ein Buch mit zahlreichen Fotos verfasst.

Herr Haller, erinnern Sie sich an Ihre erste Wolfsbegegnung, und was hat dieses Erlebnis in Ihnen ausgelöst?

Das war im Jahr 2006 in Tibet. Ich habe damals auf dem Dach der Welt wiederholt Wölfe gesehen und als Höhepunkt (im wahrsten Sinne des Wortes) auf 5360 m ü. M. eine Wurfhöhle gefunden, ein Höhenrekord. Zwei Tage lang habe ich in jenem extrem abgelegenen Gebiet die sechs gut einen Monat alten Welpen beim Spielen beobachtet, ein unvergessliches Erlebnis, das zu meinen eindrücklichsten Naturerfahrungen überhaupt gehört.

Was macht dieses Wildtier für Sie so besonders, dass Sie ihm ein ganzes Buch widmen?

Ich habe mich in meinem Wildbiologenleben hauptsächlich mit grossen Beutegreifern beschäftigt, mit einer Arbeit über den Uhu diplomiert, am Steinadler promoviert und zum Luchs habilitiert. Da war es naheliegend, dass ich mich auch mit dem eingewanderten Wolf beschäftigte. Zumal dieser in der menschlichen Gesellschaft Kontroversen auslöst. Die Beziehungen zwischen Mensch und Wildtier, das ist ja das Kernthema für Wildbiologinnen und Wildbiologen.

Ihr Buch trägt den Titel «Der Wolf. Ein Grenzgänger zwischen Natur und Kultur». Inwiefern spiegelt der Wolf etwas von uns Menschen wider?

Zum einen gibt es manche Ähnlichkeiten zwischen Wölfen und Menschen. Wir sind beide hervorragende Läufer, effiziente Jäger mit grosser Wirkung auf die umgebende Natur; uns gemeinsam sind das komplexe Sozialverhalten, die hohe Anpassungsfähigkeit, die weite Verbreitung. Zum anderen lebt der Wolf seit unserem Sesshaftwerden vor rund 12‘000 Jahren in und von unserer Nähe. Er gehört somit zur Kulturlandschaft bei uns ebenso wie anderswo. Diesen Aspekt habe ich im Buch besonders berücksichtigt.

Viele Menschen sehen im Wolf vor allem eine Gefahr für Nutztiere. Welche Rolle spielt er tatsächlich in unserem Ökosystem?

Der Wolf hat zweifellos Konfliktpotenzial. Die Übergriffe können jedoch durch richtigen Herdenschutz mit Behirtung, Hunden, Zäunen und sicheren Nachtpferchen in engen Grenzen gehalten werden. Das ist mit Aufwand verbunden, der aber bezogen auf die Budgets der öffentlichen Hand für die Landwirtschaft verschwindend klein sind. Wichtig beim Wolf ist seine Bedeutung für die Biodiversität. Damit ist ja nicht nur die Artenvielfalt gemeint, sondern auch die Wirkungsweisen in der Lebensgemeinschaft: Der Wolf ist ein effektvoller Jäger wildlebender Huftiere und mit ihm sowie dem Luchs kommen die Räuber-Beute-Beziehungen auch bei Grosstieren wieder in Gang. Speziell Forstleute begrüssen diese Entwicklung, in der Hoffnung, dass der (Schutz-)Wald sich wieder besser verjüngen kann. Untersuchungen im Yellowstone Nationalpark in den Rocky Mountains haben eindrücklich gezeigt, wie Wölfe zur Stabilität von Ökosystemen beitragen können.

Um den Wolf ranken sich viele Mythen und Ängste. Welche halten Sie für die grössten Irrtümer?

Die Vorurteile über den Wolf gründen auf dem christlichen Weltbild, das den Menschen im Zentrum sieht. Der Kampf des guten Hirten gegen den bösen Wolf ist hierfür Sinnbild. Da die Bibel in einem Gebiet mit ausgeprägter Hirtenkultur entstanden ist und die damaligen Lebensumstände in keiner Weise den heutigen entsprachen, lassen sich die früheren Vorbehalte zwar nachempfinden, doch sie sind heute nicht mehr zeitgemäss. In unserer modernen Weltanschauung hat jedes Lebewesen – und erst recht die uns nahestehenden – Anspruch auf eine faire Behandlung. Was mich am meisten stört, ist der Umstand, dass die alten Schauermärchen und Bedenken für die politische Debatte instrumentalisiert werden. Auf dem Rücken des Wolfs lässt sich leicht polemisieren.

Was denken Sie, warum löst «der böse Wolf»  aus den Märchen von früher bis heute in den Köpfen der Menschen immer noch so grosses Unbehagen aus? Ganz konkret: Ist der Wolf eine Gefahr für den Menschen?

Meines Erachtens tut man gut daran, solche Dinge nicht emotional, sondern sachlich zu behandeln. Menschen gehören nicht zum Beuteschema des Wolfs, Übergriffe sind heute extrem selten und in der Schweiz bisher unbekannt. Solche Ausnahmefälle gründen meist auf speziellen, oft menschbedingten Umständen. Das Risiko von einem Wolf angegriffen zu werden, steht in keinem Verhältnis zu anderen von uns akzeptierten Gefahren. Für uns Menschen sind Hunde jedenfalls bedeutend gefährlicher; Postboten müssen sich vor ihnen mehr in Acht nehmen als Wandernde vor Wölfen.

Die Debatte um den Wolf in der Schweiz ist sehr emotional aufgeladen. Was geht aus Ihrer Sicht in dieser Diskussion häufig verloren?

Der sachliche Diskurs. Und die Tatsache, dass Wölfe nicht nur Konflikte mit Viehhaltern auslösen können, sondern ökologische Gunstwirkungen im oben angesprochenen Sinn mit sich bringen. Erwägungen zur Schädlichkeit oder Nützlichkeit von Wildtieren prägen nach wie vor die Debatte. Ich kann dies nachvollziehen, bin aber der Meinung, dass diese althergebrachte Sichtweise zu kurz greift. Es geht um das Lebensrecht aller Arten, das heutzutage ausser Frage stehen muss. Mehr Toleranz gegenüber dem Wolf und anderen Wildtieren könnte m. E. für uns Menschen eine Chance sein, wieder mehr im Einklang mit der Natur zu leben, ganz in unserem eigenen langfristigen Interesse.

Welche konkreten Massnahmen könnten helfen, das Zusammenleben zwischen Wolf, Landwirten und Bevölkerung zu verbessern?

HERDENSCHUTZ, flächendeckend und lückenlos! Dies ist anerkannt der wirksamste Ansatz, um zum Ziel zu kommen. Da gibt es bei uns noch viel Luft nach oben. In begründeten Fällen, bei notorischen Schadenstiftern und auffälligen Tieren ohne Scheu (nicht zu verwechseln mit neugierigen Jungwölfen), gehören auch Abschüsse zum Management. Allerdings erst nach fachlicher Beurteilung. Dasselbe gilt für Welpenabschüsse. Ich bin nicht grundsätzlich gegen solche Eingriffe. Die jagdliche Regulierung wird jedoch heute viel zu stark in den Vordergrund gerückt, sodass der Herdenschutz aus dem Fokus zu geraten droht.

In anderen Ländern leben deutlich mehr Wölfe und trotzdem ist das Zusammenleben möglich. Weshalb meinen Sie, ist das in der Schweiz, aber auch in unseren Nachbarstaaten Deutschland und Österreich so anders, und was können wir aus diesen Beispielen lernen?

Deutschland hat im Vergleich zur Schweiz bisher viel toleranter auf die Rückkehr des Wolfs reagiert. Das Problem in neu besiedelten Ländern besteht meist darin, dass man den Umgang mit dem Wolf und anderen Grossraubtieren seit Langem nicht mehr gewohnt ist; die Erfahrungen verbunden mit dem Selbstverständnis ihrer Präsenz sind abhandengekommen. Ich empfehle, sich im südlichen Italien, in den Abruzzen oder in anderen Wolfs- und Bärengebieten über das Zusammenleben mit diesen Arten zu erkundigen. Da wird man sehen, dass der Herdenschutz dort ungleich viel stärker als bei uns zum täglichen Leben gehört, und zwar, von Ausnahmen abgesehen, mit Erfolg.

Gab es eine Beobachtung in der Wildnis, die Sie bis heute nicht loslässt und die zeigt, wie «anders» Wölfe sind, als wir sie uns oft vorstellen?

Im Buch, als Auftakt zur Einleitung, schildere ich eine besondere Begegnung mit einem Wolf in der Landschaft Davos. An einem Ort, wo mir vor einem halben Jahrhundert als damals in Davos wohnhafter Jugendlicher, eine Wolfsbeobachtung undenkbar erschien. Man lernt mit der Erfahrung. Und so bewege ich mich heute im Rahmen meiner Projekte zu allen Tages- und Nachtzeiten auf Pfaden, die regelmässig von Wölfen begangen werden. Dass sich diese mir entgegenstellen könnten, wie bei Hunden wiederholt erlebt, so was geht mir nie durch den Kopf.

Wenn wir 20 Jahre in die Zukunft schauen: Was wäre Ihr Wunschbild für das Verhältnis von Mensch und Wolf in der Schweiz?

Ich wünsche mir, dass wir uns stärker als Teil der Natur und weniger als privilegiertes Wesen sehen. Dass wir nicht mehr wie bisher derart menschenzentriert und länderorientiert, sondern integral im Einklang mit unserer Um- und Mitwelt sowie unseren Nachbarn denken und handeln. Das mag aus gegenwärtiger Sicht illusorisch erscheinen, doch so würden Gräben zugeschüttet, und auch Wolfsfreunde und Wolfskritiker kämen sich näher.

 

Prof. Dr. Heinrich Haller ist Wildbiologe und war von 1996–2019 Direktor des Schweizerischen Nationalparks. Der 1954 im Kanton Aargau geborene und in Davos heimatberechtigte Vater von drei Kindern sowie Grossvater von fünf Enkelkindern lebt mit seiner Frau Heidi in Zernez. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter ein Parallelwerk zum Wolf: «Der Kolkrabe – Totenvogel, Götterbote, tierisches Genie», 2022, Haupt Verlag.
Prof. Dr. Heinrich Haller ist Wildbiologe und war von 1996–2019 Direktor des Schweizerischen Nationalparks. Der 1954 im Kanton Aargau geborene und in Davos heimatberechtigte Vater von drei Kindern sowie Grossvater von fünf Enkelkindern lebt mit seiner Frau Heidi in Zernez. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter ein Parallelwerk zum Wolf: «Der Kolkrabe – Totenvogel, Götterbote, tierisches Genie», 2022, Haupt Verlag. © Dr. Heinrich Haller
Der Wolf. Erschienen im Haupt Verlag - siehe Box.
Der Wolf. Erschienen im Haupt Verlag - siehe Box. © Dr. Heinrich Haller
Die Wolfswelpen  sind Teil des engen Familienverbands, in dem sie aufwachsen.
Die Wolfswelpen sind Teil des engen Familienverbands, in dem sie aufwachsen. © Dr. Heinrich Haller

Heinrich Haller

Der Wolf

Ein Grenzgänger zwischen Natur und Kultur

2025, Haupt Verlag

ISBN 978-3-258-08432-9

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