Ich bin lieber Generalist als Spezialist

Jürg Wirth Gino Clavuot aka Snook ist Rapper, Fotograf, Risikoanalyst und Botschafter für die romanische Sprache. Im Interview sagt er, wie er die verschiedenen Dinge unter einen Hut bringt und sinniert auch über Herkunft.

Woher kommst Du?

Aus Tarasp, genauer gesagt, Sparsels. Ich bin in Scuol geboren und in Tarasp aufgewachsen.

Wirst Du das oft gefragt und nervt das?

Nein, das ist eine durchaus berechtigte Frage, die den Menschen hilft, das Ungewisse mit ihrem bestehenden Wissen zu aktualisieren. Jedoch erfahre ich oft, dass diese Antwort noch Unklarheiten offenlässt und eine zweite Frage erfolgt à la «ja, aber von wo kommst du wirklich?» Diese Frage ergibt sich aus dem Unterschied zwischen meiner Antwort und der Vorstellung, wie ein echter Tarasper oder Unterengadiner ausschauen soll. Sie nervt mich nicht. Ich kann nachvollziehen, dass dies bei der einen oder anderen Person für Unklarheiten sorgt.

Und fragen sie das mehr im Engadin oder woanders?

Diese Frage beantworte ich öfters ausserhalb des Engadins. Das Engadin hat eine überschaubare Grösse, und man kennt sich. Somit erübrigt sich auch diese Frage.

Was antwortest Du?

Diese Frage beantworte ich mit der Geschichte meines Grossvaters. Er war ein Schweizer Matrose, und als er in Rio de Janeiro ein paar Tage Landaufenthalt machte, hatte er meine Grossmutter kennengelernt. Mein Vater ist das Souvenir dieser Begegnung. Er ist in der Schweiz aufgewachsen. Meine Mutter ist eine waschechte Engadinerin. Diese Konstellation erklärt meinen brasilianischen Einfluss.

Was könnte man stattdessen fragen?

Ich kann diese Frage verstehen und finde, dass diese durchaus ihre Berechtigung hat. Die entspringt meiner Meinung nach nicht einer bösen Absicht, sondern dient dazu, dass ein Update des bestehenden Bildes wie ein Engadiner oder eine Engadinerin aussehen soll, erfolgen kann. Diese Frage hilft auch uns allen zu verstehen, dass sich Muster oder Bilder mit der Zeit verändern und auch das Engadin eine Diversität und Inklusion von Menschen, Sprachen und Kulturen erfährt, die heute etwas bunter ist als vor 50 Jahren.

Du lebst in verschiedenen Welten und Sprachen. Risikoanalysen oder Risk Management, Musik, Fotografie. Wie befruchten sich die gegenseitig?

Ja, ich strebe nach Vielfalt in meinem Leben. Für mich ist es extrem wichtig, verschiedene Perspektiven einnehmen zu dürfen und die Welt aus mehreren Winkeln zu betrachten. Diese Erfahrungen, die ich in verschiedenen Welten oder auch mit den Sprachen sammeln kann, unterstützen mich auch jeweils, da ich so Erfahrungen aus einer Welt in eine andere Welt übertragen und somit innovative Wege gehen kann. Ich bin lieber ein Generalist als ein Spezialist.

Gibt es für Dich eine Hauptwelt, oder wie einfach ist das Switchen zwischen den verschiedenen Welten?

Die Gefahr des Generalisten ist, dass er sich in der Vielfalt verzetteln kann und so den Fokus verliert. Diese Erfahrung habe ich auch bei meinem Studium der Volkswirtschaft an der Uni Zürich gemacht. Ich musste lernen, dass, wenn ich mein Studium erfolgreich abschliessen will, ich mich auf meine Ressourcen konzentrieren muss und nicht noch auf zehn anderen Hochzeiten tanzen kann. Das Studium habe ich erfolgreich abgeschlossen, und diese Erfahrung war sehr wichtig in meinem Werdegang. Somit würde ich sagen, dass es nicht eine Hauptwelt für mich gibt, aber ich habe mich damit auseinandergesetzt, wie ich meine Allokation der Ressourcen, die für jeden Menschen beschränkt sind, vornehme. Diese Betrachtung meines Lebens aus einer Metaebene hat mir geholfen, dass ich mich mit der Frage auseinandergesetzt habe, was ich gut kann und was mir davon Spass macht. Erkannt habe ich, dass ich gerne Projekte und Menschen leite, sei es in meinem spannenden Job beim Kanton in der Katastrophenvorsorge, sei es als Zivilschutzkommandant oder als Künstler. Als Ausgleich zu diesen Welten liebe ich es, in der Natur zu sein und mich beim Surfen in den Wellen am Meer zu verlieren oder bei einer Skitour in Tarasp.

Auch sprachlich bist Du divers unterwegs. Welches ist Deine Muttersprache und was bedeutet die für Dich?

Meine Muttersprache ist zu 100 % Rumantsch. Wir haben von klein auf Rumantsch zuhause mit unseren Eltern und Geschwistern gesprochen. Jedoch wachsen wir fast zweisprachig (CH-Deutsch) im Engadin auf. Für mich bedeutet Rumantsch Orientierung und Heimat.

Was bedeutet Sprache überhaupt für Dich?

Ich liebe es, die Welt zu entdecken und bin sehr offen, andere Kulturen und Ortschaften kennenzulernen. Sprachen sind meiner Meinung nach ein Schlüssel oder ein Tor, um andere Kulturen besser kennenzulernen. Auf diesen Reisen stelle ich mir oft die Frage, wer ich bin und wo ich hingehöre. Diese Frage impliziert eine Suche nach einem Referenzpunkt. Genau dieser Referenzpunkt beinhaltet nostalgische Gefühle wie beispielsweise meine Kindheit im Engadin, Menschen, Orte, aber auch Rumantsch. Um diese Gefühle möglichst authentisch auszudrücken, habe ich mich als Künstler entschieden, viele meiner Lieder auf Rumantsch zu schreiben.

Unlängst warst Du Protagonist in der Emna Rumantscha, wie kamst Du zu dieser Ehre?

Das Kulturteam des Schweizerischen Generalkonsulats in Montreal hört SNOOK. Als sie dieses Jahr damit beauftragt wurden, während der Emna Rumantscha die rätoromanische Sprache zu präsentieren und die Diversität der Schweiz aufzuzeigen, war für sie deshalb klar, dass sie mich für dieses Vorhaben an Bord haben wollten.

Wie hast Du’s mit der romanischen Sprache, und findest Du, in der Schule wird das genügend gelehrt?

Neben meiner Tätigkeit als Musiker darf ich aufgrund meines Jobs beim Kanton regelmässig Gebrauch dieser Sprache bei Workshops in den Gemeinden machen. Somit ist Rumantsch ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Ich denke, dass Rumantsch – zumindest im Engadin – durchaus genügend in der Schule gelehrt wird. Wir müssen aber mit der Zeit gehen. Die Sprachen entwickeln sich generell weiter, und wir müssen aufpassen, dass die Kids Rumantsch als cool empfinden und nicht als ein notwendiges Übel in der Schule lernen müssen.

Arbeitest Du quasi nur mit Deinem Schulwissen oder hast Du nachher noch mehr Romanisch gelernt?

Die Kombination aus dem Schulwissen und der Liebe zum Romanischen, die ich von meiner Mutter mit auf den Weg bekommen habe, bilden die Basis meiner rätoromanischen Sprache. Weiterentwickelt habe ich diese Kenntnisse mit alten Poesien, mit kontemporärer Musik, aber auch mit modernen Tools wie dem Pledari Grond, der mich jedes Mal begleitet, wenn ich neue Texte schreibe. Ein Nebeneffekt war, dass ich dadurch meinen Wortschatz erheblich erweitern konnte.

Was könnte man tun, um das Romanische zu erhalten?

Statt zu fragen, was man tun könnte, finde ich es viel wichtiger, sich die Frage zu stellen, was ich tun kann. Ich bin überzeugt, dass graduelle Akte in der Summe viel mehr bewirken können als einzelne Aktionen. So können sich beispielsweise Eltern dazu entscheiden, mit ihren Kindern Rumantsch am Mittagstisch zu reden oder lokale Künstler, die sonst in einer anderen Sprache singen, mal ein Lied in Rumantsch texten. Natürlich brauchen wir auch übergeordnet politische Unterstützung, die Rahmenbedingungen schafft, welche eine nachhaltige Entwicklung der Sprache zulässt. Je mehr wir diese Kultur leben und je cooler Rumantsch auf andere wirkt, desto eher entscheiden sich auch Familien, die ins Engadin gezogen sind, einen Romanischkurs zu besuchen.

Rumantsch Grischun?

Finde ich ein gutes Mittel, um die Sprache effizienter am Leben zu halten. Dies hat beispielsweise einheitliche Schulbücher zur Folge. Meiner Meinung nach, wenn Rumantsch Grischun als offizielle Schriftsprache verstanden wird, hat sie keinen negativen Einfluss auf die verschiedenen Idiome.

Bald erscheinen weitere Lieder von Dir, auf was können wir uns freuen?

Diversität. Ich habe mich dazu entschieden, Lieder statt Alben zu veröffentlichen. Das Verhalten der Zuhörer hat sich mit den Streaminganbietern stark verändert. Man hört nur noch die Lieder, die man mag und keine ganzen Alben. Für mich als Künstler ergibt sich daraus die Möglichkeit, viel mehr zu experimentieren und mich mit jedem Song neu zu erfinden.

Auch bei der Musik arbeitest Du in und mit verschiedenen Welten, welche finden sich auf deinen Liedern und was bringt das für Dich?

Mit dieser Veränderung der Musikindustrie muss ich mich nicht mehr an ein Konzept halten, einen roten Faden definieren und diesen durch ein ganzes Album durchziehen. Ich bin viel flexibler geworden, was sich auch in meiner Musik widerspiegelt. So integriere ich auf der einen Seite heute Rap, Pop, Elektro, aber auch Jazz oder Swing-Elemente in meine Musik. Auf der anderen Seite experimentiere ich mit verschiedenen Sprachen und versuche, diese aber auch zu kombinieren.

Weshalb findest Du den Mix oder die Zusammenarbeit verschiedener Welten wichtig?

Da meine Welt sehr bunt ist und ich nicht eine Welt als die richtige verstehe, ist mir Diversität und Inklusion sehr wichtig. Jede Welt hat ihre Daseinsberechtigung. Es ist somit ein natürlicher Prozess, dass sich dies auch in meiner Musik und in meinem Leben widerspiegelt. Ich bin überzeugt, dass eine diverse Betrachtung, sei es in der Musik oder bei einem Projekt, zu spannenderen Resultaten führt als der Tunnelblick, der keine Innovation zulässt.

Wie könnte da der Funken auch auf andere Leute und Gebiete überspringen?

Indem wir stetig an uns arbeiten, unsere Sichtweise nicht als die einzig wahre proklamieren, offen für Neues sind und unser Weltbild von Zeit zu Zeit updaten.

Und wo bist Du zu Hause?

Ich arbeite in Chur, wohne in Zürich und Landquart, und mein Herz gehört ins Engadin.

Gino Clavuot aka Snook kommt aus Tarasp und ist vielfältig unterwegs, sei es als Musiker, Fotograf oder beim Kanton in der Katastrophenvorsorge.

Snook ist auch gerne draussen in der Natur.
Snook ist auch gerne draussen in der Natur. © Tanja N. Maikoff

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