Weshalb braucht es die Bergschule Avrona?
Die Bergschule Avrona (BSA) ist ein Sonderschulinternat, unsere Schülerinnen und Schüler werden uns durch den Schulpsychologischen Dienst des Kantons zugewiesen. Wenn Kinder und Jugendliche in der Regelklasse nicht mehr zurechtkommen und andere Massnahmen (Lernzielanpassungen, Fächerbefreiung usw.) nicht mehr ausreichen, wird eine Sonderbeschulung verfügt. Dafür gibt es im Kanton Graubünden mehrere Sonderschulen, die BSA ist eine davon.
Es gibt Schülerinnen und Schüler, die mit Klassengrössen, Lerntempo usw. in den Regelklassen nicht zurechtkommen. Diese Kinder und Jugendlichen haben trotzdem ein Anrecht auf adäquate Beschulung – und die kann die BSA bieten.
Wie hat sie sich seit der Gründung verändert respektive weshalb wurde sie gegründet?
Die BSA wurde vor 70 Jahren, 1955, als Steiner-Schul-Internat gegründet. Der Gründungsimpuls war damals aus Musiklagern entstanden, die jeden Sommer in Avrona durchgeführt worden waren. Mit zwölf Schüler*innen startete die neue Internatsschule. Die Kinder und Jugendlichen stammten in den ersten Jahrzehnten fast ausschliesslich aus Steinerschulen aus der ganzen Schweiz. Ihre Zahl stieg rasch an, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Internatsschule in den Schweizer Bergen Klientel aus dem nahen Ausland anzog. Bis 1968 war die Zahl der Schüler*innen auf 82 angestiegen. Ab Ende der 70er-Jahre kamen vermehrt auch Jugendliche nach Avrona, die von der öffentlichen Hand finanziert wurden (z.B. von der IV). Die Schule wurde in den 80er-Jahren als «Schule für Kinder, die eine sorgfältige Erziehung brauchen», propagiert und wurde 1987 als Teil des Sonderschulkonzeptes des Kantons Graubünden anerkannt. In dieser Zeit sanken die Schülerzahlen auf 30 bis 35; heute bieten wir 24 Plätze an. Unsere Schülerinnen und Schüler kamen bis zu Beginn der 2000er-Jahre noch zu rund 50 Prozent aus anderen Kantonen. Seit 2010 hat der Anteil der kantonalen Schüler*innen jedoch kontinuierlich zugenommen, sodass es heute nur vereinzelt ausserkantonale Kinder und Jugendliche sind. Sie kommen auch nicht mehr aus Steinerschulen zu uns, sondern aus den Regelklassen des gesamten Kantons Graubünden.
Was zeichnet die Schule aus?
Von der geografischen Lage her hat Avrona etwas Idyllisches, die Ruhe und Abgeschiedenheit prägen die Stimmung bei uns. Allerdings arbeiten wir mit verhaltensauffälligen Jugendlichen, die in der Regel dieser idyllischen Waldlichtungssituation den Bahnhofplatz Chur vorziehen würden.
Bei uns leben maximal 24 Jugendliche, wir haben von den Mitarbeitenden und den Gebäuden her viele Ressourcen und können im Unterricht und in der Betreuung sehr stark individualisieren. Wir haben kleine bis sehr kleine Lerngruppen. Weil wir ein Internat sind, liegen Schule und Freizeit nicht sehr weit auseinander, der Kontakt zwischen Lehrpersonen und Mitarbeitenden auf den Wohngruppen ist intensiver, als das normalerweise zwischen Lehrpersonen und Eltern der Fall ist.
Wie ist das Unterrichtskonzept oder Schulkonzept?
Unsere Schüler*innen sollen zunächst einmal zur Ruhe kommen können, wir bieten eine klare Tagesstruktur, zuverlässige Beziehungen, vielfältige Aktivitäten und individuelle Förderung. Klassenzimmer und Wohngruppe sollen (wieder) zu einem sicheren Ort werden können.
Wir halten uns an den Lehrplan 21, allerdings erhalten künstlerische, handwerkliche und sportliche Fächer bei uns wohl eine stärkere Betonung als in der Regelschule.
Welche Kinder kommen hierher?
Grundsätzlich sind das Kinder mit besonderen Schwierigkeiten. Wir haben mit ADHS zu tun, mit Schulabsentismus, selbstverletzendes Verhalten ist immer wieder ein Thema, oftmals eine Suchtproblematik, meistens kombiniert mit familiären Situationen, die ebenfalls Unterstützung benötigen.
Ich nehme an, die kommen eher nicht freiwillig, wie geht man damit um in der Schule?
Im Sonderschulinternat Avrona anzukommen ist eine grosse Herausforderung für unsere Kinder und Jugendlichen. Das Setting «Schule» war ja in der Vergangenheit schon schwierig und problembeladen, das ändert sich dann nicht einfach dadurch, dass man ein «Sonder-» vorne dranhängt. Wir rechnen damit, dass es Zeit braucht, bis unsere Schüler*innen einigermassen ankommen können, wir geben ihnen diese Zeit. Reden, spazieren gehen, mit den Tieren arbeiten, möglichst Druck wegnehmen, Vertrauen aufbauen, Zuverlässigkeit leben – das ist unser Alltag, der am Anfang wichtig ist, der aber wichtig bleibt. Manchmal dauert das Ankommen einige wenige Tage, manchmal ein Jahr, das ist sehr unterschiedlich. Geduld ist in einem pädagogischen Arbeitsfeld immer eine Tugend, beim Ankommen-Müssen in einem Sonderschulinternat wohl in einem besonderen Mass!
Wie gehen die Kinder und Jugendlichen damit um?
Rückzug, Verstummen, die Decke über den Kopf ziehen. Oder laut werden, Dinge schmeissen, fluchen, beleidigen. Oder reden, reden, reden. Oder, oder, oder... Sie sind sehr unterschiedlich, unsere Jugendlichen, tapfer sind sie alle. Wenn man ihre Geschichten kennt, wenn man es schafft, sich dies alles einigermassen vorzustellen, dann kann man immer wieder nur darüber staunen, was Kinder und Jugendliche in unserer Welt erleben und erdulden müssen. Und man entwickelt als Pädagoge durchaus ab und zu einen gewissen Unmut darüber, was unsere Gesellschaft ihren jüngsten Mitgliedern manchmal zumutet.
Avrona ist relativ abgeschieden, damit man die Kinder besser unter Kontrolle hat, sie nicht wegkommen?
Nein, nein, das ist falsch herum gedacht. Zuerst war dieser Ort, abgeschieden, ja, aber kraftvoll, lebendig, mit ganz viel ganz grosser und starker Natur rundherum. Dann kam die Idee für eine Schule an diesem Ort, weil sich einige Menschen von einem solchen Ort viel heilende und unterstützende Wirkung auf Menschenseelen erhofften. Und dann erst kam die Sonderschule.
«Unter Kontrolle haben» ist kein zielführendes Konzept in der Pädagogik, Kontrolle geht Richtung Macht und Unterdrückung. Jeder noch so kurze Blick in die Weltgeschichte zeigt, dass Macht und Unterdrückung zwar verbreitet sind, dass sie aber nichts Gutes und nichts Zukünftiges bewirken. Deshalb versuchen wir etwas anderes: Vertrauen aufbauen, ehrliche und zuverlässige Beziehungsarbeit, Stärkung der Individualität, Förderung von Kreativität in jede erdenkliche Richtung – das ermöglicht Leben, das ermöglicht Zukunft, in der man leben möchte!
Müssen die Kinder bleiben oder können sie wieder gehen, wenn es ihnen nicht gefällt?
Wir haben in der Schweiz die Schulpflicht, neun Jahre sind in der Regel obligatorisch. Und eine Sonderschulverfügung kommt ja nicht aus dem Nichts heraus, da gibt es immer eine recht lange Vorgeschichte. Das heisst: Die meisten Kinder bleiben bis zum Ende ihrer obligatorischen Schulzeit, wenn alle Beteiligten das wünschen, ist sogar ein 10. Schuljahr in Avrona möglich.
Aber: Grundsätzlich ist die Reintegration in die Regelschule eine Möglichkeit, zumindest theoretisch ja auch wünschenswert, weil damit eine «Sondersituation» wieder ins «normale» Leben zurückgeführt wird. Praktisch sieht es aber meistens so aus, dass im Setting, aus dem die Schüler*innen kommen, so viel schiefgelaufen ist, dass eine Rückkehr von niemandem gewünscht wird.
Reintegration ist möglich, ich habe es in den vergangenen zwölf Jahren auch erlebt, aber es ist selten, sehr selten.
Gibt es Ausreisser?
Sicher, abhauen ist immer ein Thema. Allerdings dauert’s eine halbe Stunde bis zum nächsten Bus... Momentan haben wir es eher damit zu tun, dass Schüler*innen nach dem Wochenende oder nach den Ferien nicht anreisen, irgendwie die passive Form des Ausreissens. Und: Wir sind keine geschlossene Institution, unsere Türen sind offen und wir halten unsere Jugendlichen nicht zurück. Wir erklären ihnen lediglich, dass Abhauen wohl keine wirklich problemlösende Aktion ist.
Erfolgsquote ist ein blödes Wort, aber gelingt es, die Kinder wieder in den normalen Schulalltag zu integrieren oder ist das gar nicht das Ziel? Oder was ist überhaupt das Ziel?
Reintegration ist nicht das erste Ziel, das ist in den meisten Situationen zu weit entfernt. Unsere Schüler*innen sollen zur Ruhe kommen, sie sollen wieder an sich glauben können, sich etwas zutrauen, sie sollen Pläne entwickeln, Wünsche, Ziele. Und im besten Fall finden wir gemeinsam gangbare Wege in eine solche Richtung.