«Die Alp Mora ist mir Heimat»

Annelise Albertin Im Juni ist es wieder so weit: Die Kuh- und Rinderherden ziehen in die Sommerfrische. Der diesjährige Alpauftrieb weckt in Linard Caviezel, dem ehemaligen Hirten auf der Alp Mora, gemischte Gefühle. Im Gespräch gibt er Einblick in den Hirtenalltag und erläutert die Beweggründe für seinen Ausstieg.

Linard, was geht in Dir vor, wenn Du an den bevorstehenden Alpauftrieb denkst?

Es ist ein eigenartiges Gefühl. Ich habe mich immer gefreut, im Sommer auf die Alp zu ziehen. Im Frühjahr, wenn die Kühe wieder draussen auf den Weiden sind, weisst Du, dass es bald losgeht, und es kommt Vorfreude auf. Dieses Jahr werde ich im Tal bleiben, daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Aber ich darf den neuen Hirten, der mit seiner Familie aus dem Passeiertal auf die Alp Mora kommt, in seine Aufgaben einführen. Also werde ich die ersten Tage mit ihnen auf der Alp sein, darauf freue ich mich.

Wie viele Jahre warst Du Hirt auf der Alp Mora?

Fast meine ganze Kindheit habe ich die Sommermonate auf der Alp Mora verbracht. Zwölf Jahre waren meine Eltern als Hirten auf dieser Alp, und meine Geschwister und ich haben die Schulferien dort verbracht. Für mich waren das die schönsten Ferien. Nachdem meine Eltern die Hirtentätigkeit aufgaben, bin ich in ihre Fussstapfen getreten und habe die Alp Mora übernommen und während vierzehn Jahren bewirtschaftet. Zur Mithilfe hatte ich eine Haushälterin, die auch für das «Alpbeizli» zuständig war, und zwei bis drei jugendliche Hirtenbuben waren angestellt.

Die meisten Menschen haben romantische Vorstellungen vom Leben auf der Alp. Wie schaut der Tagesablauf eines Hirten aus?

Der Hirtenalltag kennt keine Sonntage. Man steht täglich um halb vier Uhr auf, um die Kühe zum Melken von der Weide zu holen, wo sie die Nacht verbracht haben, dann Melkmaschinen und Stall putzen. Das muss erledigt sein, bevor der Milchmann um sieben Uhr die Milch abholt. Danach frühstücken alle zusammen, was zu den schönsten Momenten des Tages zählt. Es kehrt Ruhe ein, man sitzt beisammen und bespricht den Tag. Nach dem Frühstück steigt man auf den Berg, um nach dem Jungvieh zu schauen: Fehlt eines? Sind alle gesund? Gegen Mittag kehrt man zur Hütte zurück, wobei nicht immer alle gleichzeitig zum Essen eintreffen. Das hängt davon ab, wie weit man gehen musste oder was auf dem Berg los war. Mittags ist auch das «Alpbeizli» offen und je nach Gästeandrang müssen alle mithelfen. Am Nachmittag ist «Zimmerstunde» angesagt und man kann etwas Schlaf nachholen. Um 16.00 Uhr gibt’s Kaffee und Kuchen, bevor wieder die Kühe zum Melken zusammengetrieben werden. Manchmal sitzt man nach getaner Arbeit noch etwas draussen und geniesst die Abendstimmung, bevor gegen 22.00 Uhr alle schlafen gehen. Es sind alles in allem strenge Tage und man darf nicht vergessen, dass man bei jedem Wetter auf den Berg muss. Trotzdem möchte ich keinen einzigen Tag missen.  

Gab es Ereignisse, die Dich besonders geprägt haben?

Das Vieh liegt mir am Herzen. Wenn es einem Tier nicht gut geht, belastet mich das. Im letzten Sommer haben die Wölfe ein Kalb gerissen. Es geschah Ende August, und ich freute mich darüber, dass der Sommer ohne Verluste zu Ende zu gehen schien. Ich war an dem Tag bei der Beerdigung meines Grossvaters im Tal. Die Hirtenbuben meldeten mir bei meiner Rückkehr, dass ein Kalb fehlt und sie zwei Wölfe gesichtet hätten. Ich ahnte Schlimmes und machte mich sofort auf die Suche. Nach langem Suchen fand ich das angefressene tote Kälblein. Es war kein schöner Anblick, und dieses Bild hat sich für immer in meinem Kopf eingebrannt. Ich war sehr traurig.

Was könnte man tun, um die Viehherden vor dem Wolf zu schützen?

Das ist bei Rinderherden schwierig. Die Tiere sind Tag und Nacht auf dem Berg verstreut, deshalb schaut man ja regelmässig nach ihnen. Herdenschutzhunde sind nur bei Schafherden effizient einsetzbar. Die Milchkühe sind in der Nähe der Alphütte, die sind weniger in Gefahr als die Rinder. Der Wolf war schon länger präsent im Val Mora, jedoch war es immer nur ein Tier. Dieses Kalb wurde von mehreren Wölfen gerissen.

Der Wolf ist auch Teil der Natur und sorgt für das ökologische Gleichgewicht. Wie passt das Deiner Meinung nach zur Landwirtschaft?

Das ist mir bewusst, und der Wolf braucht auch Nahrung. Aber wenn ein Nutztier gerissen wird, ist das für den Bauern oder den Hirten ein Verlust, der schmerzt. Natürlich kommen auch andere Unglücksfälle vor. Ein Rind kann abstürzen oder eine Kuh krank werden, aber ein gerissenes Tier ist ein viel einschneidenderes Ereignis. Der Wolf verursacht eine Unsicherheit, man weiss nie, was man auf dem Berg antrifft. Die Tiere müssen noch mehr beaufsichtigt werden. Die Präsenz von Menschen ist ein gewisser Schutz für die Nutztiere. 

Mit welchen Problemen hattest Du sonst noch zu kämpfen?

Die Zusammenarbeit mit den Bauern hat im Grossen und Ganzen gut funktioniert. Das Klauenschneiden hat öfters mal Probleme bereitet. Nicht jeder Bauer pflegt seine Kühe gleich gut, und so musste ich ab und zu eingreifen. Auf der Alp müssen die Klauen geschnitten sein, sonst hinkt das Tier. Mit der Zeit wusste ich aber, auf welche Tiere ich besonders achten und die Klauen nachschneiden musste.

Was rätst Du jungen angehenden Hirten, wie sollen sie sich auf den Alpsommer vorbereiten?

Als Hirt hat man keinen alltäglichen Beruf. Es braucht Motivation und Freude, sonst ist man fehl am Platze. Bei meinen Hirtenbuben habe ich immer darauf geschaut, dass sie selbst wollten und nicht von den Eltern dazu gedrängt wurden. Und man muss Ausdauer haben.

Man spürt Deine Begeisterung. Warum hast Du vom Hirtenleben Abschied genommen?

Ich bin gelernter Schreiner und konnte im Kloster St. Johann die Nachfolge des bisherigen Hausschreiners übernehmen, der in Pension gegangen ist. Ich bin gerne Schreiner und habe nun eine Jahresstelle in einer angenehmen Umgebung. Als Junggeselle eine Alp zu betreuen, ist eine Herausforderung. Man muss gutes Alppersonal finden und einarbeiten, was nicht immer ganz einfach ist. Als Ehepaar oder Familie den Alpsommer zu verbringen, wäre wesentlich leichter.

Ziehst Du in Betracht, irgendwann mal wieder auf die Alp Mora oder eine andere Alp zurückzukehren?

Sag nie «Nie»! Auf eine andere Alp wohl weniger, aber die Alp Mora ist mir Heimat.

 

Linard Caviezel ist 39 Jahre alt und in Müstair aufgewachsen. Nach der Schreinerlehre hat er im Sommer als Hirt die Alp Mora bewirtschaftet und im Winter in einem Schreinereibetrieb gearbeitet. Seine Heimat und die Berge sind sein Lebenselixier. 
Linard Caviezel ist 39 Jahre alt und in Müstair aufgewachsen. Nach der Schreinerlehre hat er im Sommer als Hirt die Alp Mora bewirtschaftet und im Winter in einem Schreinereibetrieb gearbeitet. Seine Heimat und die Berge sind sein Lebenselixier.  © Linard Caviezel
Alp Mora
Alp Mora © Linard Caviezel

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