So begünstigt viel Geschiebe Hochwasser im Inn.
So begünstigt viel Geschiebe Hochwasser im Inn. © Domink Taeuber

Starkregen und weniger Eigenverantwortung

Jürg Wirth Martin Keiser ist Spezialist für Naturgefahren im Kanton Graubünden und beobachtet die Natur genau. Sorgen macht ihm im Moment das viele Geschiebe im Inn und die fehlende Eigenverantwortung der Menschen.

Ein Fall wie Blatten im Lötschental sei in der Region Unterengadin/Val Müstair eher nicht möglich, gibt Martin Keiser gleich zu Beginn Entwarnung. Er muss es wissen, ist er doch Spezialist für Naturgefahren beim Amt für Wald und Naturgefahren. Blatten sei deshalb eher nicht möglich, weil es hier keine vergletscherten Gebiete direkt über Siedlungszonen gebe. Die hochalpinen Gebiete lägen weniger nahe an den Siedlungen. Deshalb hätten allfällige Gletscherabbrüche keine derart dramatischen Auswirkungen. Grössere Rutschungen, die in einer Prozessverkettung bis ins Siedlungsgebiet vorstossen können, sind jedoch auch in unserer Region nicht auszuschliessen und müssen laufend beobachtet werden.

Keiser ist studierter Forstingenieur und betreut die hiesige Region in Sachen Naturgefahren bereits seit elf Jahren, kann also auch aus Erfahrung sprechen. Was aber grosse Murgänge oder Gletscherabbrüche anrichten können, hat er beim Bergsturz in Bondo mit dem anschliessenden Murgang erlebt. 

Häufigere Frost-Tau-Zyklen

Doch zurück ins Engadin, hier wie überall teile man die gravitativen Naturgefahren in vier Prozesse ein, erklärt der Experte: Lawinen, Sturzprozesse, Rutschungen und Hochwasser/Murgang. Im Siedlungsgebiet habe sich dabei die Gefahrenlage im Vergleich zu früher nicht allzu stark verändert. Es gibt jedoch auch bei uns klare Veränderungen. Zum Beispiel ist die Engadinerstrasse im Abschnitt zwischen Martina und Vinadi häufigeren Ereignissen ausgesetzt. In erster Linie Steinschlägen, dies sei auch auf die häufigeren Frost-Tau-Zyklen zurückzuführen. Früher wurde es im Herbst kalt und die Oberflächen froren zu und tauten erst im Frühling wieder auf. Mit den vermehrten Wärmeperioden taue es immer wieder auch zwischendurch. Dadurch dringe mehr Wasser in die Felsen und Berge ein, gefriere dann wieder und sprenge irgendwann ein grösseres oder kleineres Stück Fels oder Berg weg. Auch Nassschneerutschungen sind aufgrund der Wärmeperioden deutlich häufiger festzustellen. 

In höheren Lagen ist die vermehrte Aktivität ebenfalls spürbar. Geschieht das Ganze dort und insbesondere in auftauenden Permafrostgebieten, donnern die Felsmassen zwar nicht auf eine Fahrbahn, aber oft in ein Gerinne, häufig einen Bach. Dadurch wird die Geschiebemenge im Vergleich zu früher erhöht. Mäandriert das Gewässer nicht gerade gemächlich vor sich hin, sondern stürzt steile Täler als Murgänge hinunter, bewegen sich auch die Felsmassen langsam talwärts und enden dann im Hauptfluss des Engadins, dem Inn. 

Erdrutsche nehmen zu. Hier ein Felssturz unterhalb Vinadi vom Dezember 2023, der die Engadinstrasse verschüttet hat.
Erdrutsche nehmen zu. Hier ein Felssturz unterhalb Vinadi vom Dezember 2023, der die Engadinstrasse verschüttet hat. © Domink Taeuber

Viel Geschiebe im Inn

Das sei tatsächlich ein Punkt, den es zu beachten gelte, sagt Keiser. Die hohe Geschiebeverfügbarkeit in den Gewässern sei teilweise besorgniserregend. In der Gegend der Abwasserreinigungsanlage bei Scuol lägen momentan rund 300'000 Kubikmeter zusätzliches Geschiebe im Flussbett. Weil dort das Gelände nicht eben steil ist und der Inn das Geschiebe nur teilweise weitertransportiert, wird dieses in nächster Zeit auch liegen bleiben. Denn auch Ausbaggern sei nicht möglich, sagt Keiser. Wer Sand oder Eiswürfel in ein schon gut gefülltes Wasserglas gibt, weiss, was passieren wird: Irgendwann läuft das Glas über. Das Gleiche droht auch beim Inn, wenn starke Regenfälle dazukommen. Im besten Fall könnte das Hochwasser auch einen guten Teil des Geschiebes weitertragen, im schlechtesten Fall aber führe es lediglich dazu, dass der Inn über die Ufer trete. Aktuell seien die Gebiete bei Sur En da Sent und San Niclà kritisch, weil schon stark aufgelandet.

Keiser verlässt sich bei diesen Ausführungen nicht einfach auf das Gefühl, sondern auf harte Fakten. 2011 habe noch Geschiebemangel geherrscht, seit 2015 aber sei die Flusssohle kontinuierlich gestiegen. Jetzt läge diese an einigen Stellen bis zu vier Meter höher, weshalb die Brücke bei San Niclà mittlerweile auch bei einem kleineren Hochwasser überschwemmt wird.

Das Wasser ist das eine, permanente Rutschungen sind das andere. Beispielsweise diejenigen im Tasnanhang zwischen Ardez und Scuol oder God San Steivan zwischen Giarsun und Ardez. Die Strasse ist bereits entsprechend signalisiert mit dem Verkehrsschild «unebene Fahrbahn». Tatsächlich fühlt man sich beim Darüberfahren ein wenig wie auf einer Achterbahn. Gut sichtbar sind auch die Belagsschäden, welche die Wellen und Rutschungen auslösen. Früher habe man Schotterstrassen gehabt, sagt Keiser, da genügte es, kleinere Schäden wieder mit neuem Schotter abzudecken, bei den heutigen Anforderungen sei dies aber nicht mehr möglich.

Ftan liege auf einer Grossrutschung. Bis zu zwei Zentimeter pro Jahr bewege sich das Dorf Richtung Inn, am besten zu sehen sei dies bei der Abzweigung nach Ftan Pitschen, wo sich immer wieder neue Risse öffneten. Doch damit nicht genug, Ftan rutscht nicht nur, sondern ist auch lawinengefährdet, weshalb man oberhalb des Dorfes stabile Lawinenverbauungen installiert habe. Interventions- und Evakuationspläne seien vorhanden, sagt Keiser. Aber keine Angst, Ftan muss in den nächsten Jahren nicht aufgegeben werden. 

Auch für das Val Müstair sieht er diesbezüglich keine Gefahr. Dieses sei laut Keiser ein klassisches Rüfengebiet, also prädestiniert für Murgänge, die Hotspots seien Sta. Maria und Fuldera, doch an allen Orten arbeite man mit Verbauungen, um diese Gefahren einzudämmen. 

 

Was Keiser Sorge bereitet, sind die Starkregenfälle, die als Folge der Klimaerwärmung immer häufiger auftreten. Diese führen zu Überschwemmungen und Murgängen und sind schwer vorauszusagen und in der Stärke nicht gut einzuschätzen. Aber wie bereits eingangs erwähnt, befürchtet Keiser bei all diesen Prozessen und Gefahren keine unüberwindbaren Herausforderungen für unsere Region.

Rutsche und Murgänge wirken sich schlussendlich auch auf das Geschiebe im Inn aus.
Rutsche und Murgänge wirken sich schlussendlich auch auf das Geschiebe im Inn aus. © Domink Taeuber

Immer und überall unterwegs

Sehr skeptisch beobachtet er die Veränderung der Menschen und der Gesellschaft. Dort beobachte er in den letzten Jahren und Jahrzehnten grössere Veränderungen als in der Natur: «Wir entwickeln uns zur 24-Stunden-Gesellschaft, die Menschen wollen immer und überall unterwegs sein.» Im Winter bei Schneefällen und im Sommer bei Starkniederschlägen beispielsweise sollten die Strassen immer und überall befahrbar sein, ohne sich selber über die Naturgefahrensituation bewusst zu sein. Dazu komme, dass dem Menschen der Bezug zur Natur immer stärker fehle und die im Naturgefahrenmanagement so zentrale Eigenverantwortung nicht wahrgenommen wird. Wenn die Entwicklungen so weitergingen, werde von der Gesellschaft bald schon erwartet, dass auch im hochalpinen Gebiet und dem freien Gelände eine öffentliche Institution für die Sicherheit des Einzelnen zu sorgen hat. Und dies sei für die Naturgefahrenverantwortlichen von Kanton und Gemeinden schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Wichtig sei es deshalb, dass man den Leuten vor allem diese Problematik aufzeige, sie für diese Thematik sensibilisiere und die Eigenverantwortung hochgehalten werde. 

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